Neben uns die Sintflut!?

Wie und warum wir über die Verhältnisse anderer leben

Prof. Dr. Stephan Lessenich

Prof. Dr. Stephan Lessenich erläuterte zunächst die Grundthese seines Buchs: Die Lebensverhältnisse der Menschen in verschiedenen Weltregionen stehen in Beziehung zueinander, in einer Wechselwirkung. Diese „Relationalität“ der Lebensverhältnisse bedeutet für die kapitalistische Weltgesellschaft der Gegenwart: Die Lebensverhältnisse in den Ländern des globalen Nordens sind – jedenfalls für die große Mehrheit dort – gut, während es in den Ländern des globalen Südens darum mehrheitlich schlecht bestellt ist. Wir leben gut, weil wir von anderen leben – von dem, was andere leisten und erleiden, tun und erdulden. Die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder leben also nicht über ihre Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse anderer. Der Reichtum hierzulande beruht demnach auf doppelter Ausbeutung: hier und anderswo.

Externalisierung bedeutet dann in diesem Zusammenhang, dass die reichen hochindustrialisierten Gesellschaften die negativen Effekte ihres Handelns auf Länder und Menschen in ärmeren, weniger entwickelten Weltregionen auslagern. Mit dem Begriff der Externalisierung knüpft Lessenich bewusst an die Begrifflichkeit der Ökonomik („externe Kosten“) wie auch der Sozialpsychologie („Das eigene Bewusstsein und Selbstbild wird vor Beeinträchtigungen und inneren Konflikten geschützt.“) an. Gerade der zweite Aspekt ist wichtig: Die Voraussetzungen für die hiesigen Verhältnisse werden nicht erkannt und nicht anerkannt, sondern sie werden systematisch ausgeblendet. In seinem Buch gibt Lessenich eine Vielzahl von Beispielen für diese Externalisierungsstrategie. Am Veranstaltungsabend befasste er sich aus aktuellem Anlass (die Diskussion über das Verbot von Glyphosat) lediglich mit der Sojaproduktion in Argentinien. Denn dort wird Glyphosat in riesigen Mengen für die Sojaproduktion angewandt. Wobei der Monsanto-Konzern sowohl das gentechnisch veränderte Saatgut für die Sojaproduktion liefert als auch das Glyphosat, das alles vernichtet außer eben dieses gentechnisch veränderte Soja, das in Argentinien auf immensen Flächen angebaut wird. Soja (als Fleischvorprodukt) hat in Argentinien die traditionelle Rinderzucht weitgehend verdrängt. Der massenindustrielle und monokulturelle Anbau von Soja hat zudem Kleinbauern vertrieben und die Landflucht in die städtischen Agglomerationen verstärkt.

Dieser Sojaanbau ist insofern ein typisches Beispiel für die Externalisierungsstrategie, als er vor Ort, in Argentinien, eine Flächenaneignung darstellt für Produkte, die hier im globalen Norden nachgefragt werden (Fleisch). Die schädlichen Folgen dieses Agrarkapitalismus (ökologisch, sozial und politisch!) verbleiben aber dort. Und diese Folgen werden hier beim Fleischkonsum natürlich ausgeblendet, die Externalisierung der Kosten wird akzeptiert.  

Die erwähnten Aspekte der Externalisierung sind laut Lessenich auch deshalb von Bedeutung, weil sie auf zwei Ansätze für mögliche Gegenstrategien verweisen: Zum einen sei „klassische“ Kapitalismuskritik notwendig. Zum anderen müsse aber immer auch die große Bevölkerungsmehrheit mit ihren Alltagspraktiken bedacht werden, weil es eben diese Praktiken sind, die die Externalisierung stabilisieren. Wenn sich etwas ändern soll, dann müssen diese alltäglichen Handlungsweisen in Verbindung gebracht werden mit den gesellschaftlichen Strukturen, so Lessenich.

Für das gegenwärtige Stadium der Externalisierung ist nach Lessenich kennzeichnend, dass die Externalisierungseffekte „zurückschlagen“, dass deren soziale und ökologische Folgen also immer stärker auch in den reichen Industriegesellschaften sichtbar werden. Die Auswirkungen des Klimawandels und die Migrationsbewegungen seien hierfür die augenfälligsten Beispiele.

Auf die selbst gestellte Frage „Was nun? Was tun?“ wollte der Soziologe Lessenich keine politische Handlungsanleitung geben. Wichtig sei aus seiner Sicht zunächst und vor allem, die Verhältnisse so darzustellen, wie sie sind. Und klar zu sagen, dass wir von diesen Verhältnissen profitieren und sie durch unsere Alltagspraktiken mittragen. Es gehe jetzt darum, den „geheimen Gesellschaftsvertrag“ zu durchbrechen, auf dem diese Verhältnisse beruhen: nämlich dass diese Verhältnisse akzeptiert werden, solange es den darin agierenden Menschen gut geht und ihnen alles vom Leib gehalten wird, was diesen Zustand gefährdet. Dass dies derzeit immer weniger zu funktionieren scheint, erlaubt es laut Lessenich, von einer „Krise der Externalisierung“ zu sprechen. Immer mehr Menschen spüren offenbar, dass die gewohnten und lieb gewordenen Lebensverhältnisse ins Wanken geraten sind.

Auf den Punkt möglicher Handlungsoptionen in der Krise der Externalisierung konzentrierte sich auch die anschließende, sehr intensive Diskussion. Dabei wurde deutlich, dass produktive Umgangsweisen mit dieser Krise zur Voraussetzung haben, dass Analyse und Alltagspraxis ineinander greifen müssen. Nur wenn es gelingt, das eigene Leben individuell so weit wie möglich auf nachhaltige, ressourcenschonende Weise einzurichten und gleichzeitig für eine politische Änderung der Rahmenbedingungen einzutreten, kann strukturelle Veränderung erreicht werden. Um die notwendige Reduzierung des Ressourcenverbrauchs um ca. 80% zu erreichen, muss eine langfristige kollektive Strategie entwickelt werden, die auf einem intensiven politischen Diskurs und demokratischen Entscheidungen beruht. Individuelles Handeln (Lessenich: „konsumethisches Avantgardehandeln“) kann diese Kollektiv-Strategie zwar nicht ersetzen, spielt aber wegen des Vorbildcharakters dennoch eine wichtige Rolle.

Wer den gesamten Vortrag sehen und hören möchte, kann dies auf YouTube tun. Vielen Dank für das Video an unseren Kooperationspartner attac Bamberg.

Lessenich - Neben uns die Sintflut - Bamberg - Attac Bamberg

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Mit:

Prof. Dr. Stephan Lessenich

Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München
Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Autor von „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“
http://www.stephan-lessenich.de/

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