„Migrationsmanagement ist zu einem Euphemismus für die Abwehr von Geflüchteten geworden“

Interview

Am 23. September legte die Europäische Kommission das „Neue Migrations- und Asyl-Paket“ vor. Ein Interview mit dem Europaabgeordneten und flüchtlingspolitischen Sprecher der Grünen/EFA-Fraktion Erik Marquardt über die Zukunft der europäischen Asyl- und Migrationspolitik.

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Eva van de Rakt: Mitte September sprach Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen während ihrer ersten Rede zur Lage der EU davon, dass Migration unsere Kulturen bereichert habe und die EU einen menschenwürdigen und solidarischen Ansatz in der gemeinsamen Asylpolitik benötige. Sie betonte, dass Moria uns schmerzhaft an die Notwendigkeit erinnere zueinanderzufinden und kündigte an, die Bedingungen für Geflüchtete verbessern zu wollen. Das waren große Versprechungen. Was ist nach der Vorstellung des „Neuen Migrations- und Asyl-Pakets“ davon noch übrig (Englisch: „New Pact on Migration and Asylum“)?

Erik Marquardt: Der Vorschlag der EU-Kommission wird diesen Versprechungen nicht gerecht, da er das Modell der griechischen Massenlager in Gesetzesform gießt. Menschenunwürdige Lager wie Moria werden so nicht verhindert, sondern institutionalisiert. Sie sind kein Unfall oder Fehler der aktuellen europäischen Flüchtlingspolitik, sondern deren Konsequenz. Deswegen wurde nach dem schrecklichen Brand in Moria ja auch sofort daran gearbeitet, das Lager wieder zu errichten und ein neues Moria an einem anderen Ort zu bauen, statt eine nachhaltige Lösung zu finden und die Menschen würdig unterzubringen und dann zu verteilen. Ich bin seit Jahren regelmäßig vor Ort und kann ganz klar sagen: Die Zustände dort sind schlimmer denn je. Die Kommission und die Mitgliedstaaten wollen diese Elendslager an der Außengrenzen um abzuschrecken. Dadurch produziert sie dann auch wissentlich und willentlich das Leiden von Schutzsuchenden an den Außengrenzen, weil das Leiden ein Teil der Abschreckungspolitik ist.

Der Vizepräsident der Kommission Margaritis Schinas beschrieb den Pakt als einen frischen Start und Kompromiss. Er hoffe, dass er die Grundlage für ein ordnungsgemäßes, rationales und gemeinsames Migrationsmanagement lege. Das Framing von Migration als Managementaufgabe ist auffallend. Wie bewertest Du dieses Framing? 

Migrationsmanagement ist zu einem Euphemismus für die Abwehr von Geflüchteten geworden. Wenn von Migrationsmanagement die Rede ist, geht es leider oft einfach darum, sichere Fluchtwege und Rechtsstaatlichkeit zu verhindern. Durch eine technokratische Sprache werden das Chaos und die Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen verschleiert. Durch diese Sprache werden Menschen zu Zahlen gemacht und ihre persönliche Fluchtgeschichte wird dabei komplett unter den Teppich gekehrt und unsichtbar gemacht. Diese entmenschlichende Strategie hilft den EU-Regierungen, ihre Politik vor der Wählerschaft zu rechtfertigen. 

Abschiebepatenschaften – für mich ein Anwärter für das Unwort des Jahres 2020

Die Kommissarin für Inneres Ylva Johansson wies während der Pressekonferenz wiederholt auf das neue Konzept von Solidarität hin. Solidarität sollen Mitgliedstaaten zukünftig über die Aufnahme von Geflüchteten aus Mitgliedstaaten mit besonders stark beanspruchten Asylsystemen wie Griechenland und Italien (Relocation-Verfahren) und über sogenannte Rückführungspatenschaften leisten (return sponsorships). Wie bewertest Du dieses Verständnis von Solidarität? Kann mit diesem Vorschlag die bisher nicht funktionierende Umverteilung von Geflüchteten innerhalb der EU geregelt werden?

Der Vorschlag der Kommission spricht von „flexibler Solidarität“. Demnach können Mitgliedstaaten auswählen, in welcher Form sie sich mit den südlichen EU-Ländern solidarisch zeigen möchten, wenn diese der Zahl an Geflüchteten nicht mehr gewachsen sind. „Flexible Solidarität“ verunglimpft aber das Konzept von Solidarität von Grunde auf, denn die Mitgliedstaaten sind zwar verpflichtet im Falle hoher Fluchtzahlen Solidarität zu zeigen, aber nicht dazu, Geflüchtete aufzunehmen. Alternativ können sich die unwilligen Mitgliedstaaten anderweitig einbringen und Solidarität zeigen, indem sie beispielsweise Rückführungspartnerschaften übernehmen – sprich: sie sollen im Namen der Grenzstaaten abschieben.

In der deutschen Debatte war auch von Abschiebepatenschaften die Rede – für mich ein Anwärter für das Unwort des Jahres 2020. Das hat nichts mit Solidarität zu tun, sondern führt nur zu neuen irrsinnigen Verwaltungsprozessen ohne einen praktischen Nutzen. Die EU-Kommission hatte das Dublin-System für tot erklärt – und will es mit dem Pakt doch als Kernelement des europäischen Asylsystems beibehalten. Was sich mit dem Pakt ändert, ist vor allem der Titel. Dublin heißt jetzt „Migrationsmanagement“. Das Dublin-System ist ein System der Verantwortungsabwälzung auf Mitgliedstaaten an den südlichen Außengrenzen der EU. Der Vorschlag der Kommission verschärft die Verantwortung der südlichen EU-Länder wie Griechenland, Malta, Italien oder Spanien – ohne ihnen ausreichend Solidarität zu bieten.

In dem Kommissionsvorschlag wird zudem ein Schwerpunkt auf schnellere Verfahren an den Außengrenzen gelegt. Wie bewertest Du das neue Screening-Verfahren? Wie werden sich die vorgeschlagenen Maßnahmen und Verfahren auf die Unterbringung und die Situation in den Lagern auswirken? Was bedeutet der Pakt für Schutzsuchende?

Das neue Screening-Verfahren legt den Grundstein für die massenhafte Inhaftierung von Geflüchteten in geschlossenen Lagern an den Außengrenzen. Davon sind nur unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Kinder unter 12 Jahren mit ihren Familien ausgenommen. Laut Vorschlag soll die erste Vorprüfung eines jeden Ankommenden innerhalb von fünf Tagen abgeschlossen werden. Wegen der Erfahrung der vergangenen Jahre kann ich über diese Idee nur den Kopf schütteln. Das ist absolut wirklichkeitsfremd. Die vorgeschlagene Zeitspanne kann nur Vereinfachung, Verunmenschlichung und hohe Fehlerquoten als Konsequenz haben und wird somit dem Anspruch einer fairen und menschlichen Prüfung nicht gerecht werden können. Außerdem soll die Haftdauer für Grenzverfahren von bisher vier Wochen auf künftig 12 Wochen erhöht werden. Hiermit setzt die Kommission auf vermehrte Inhaftierung in unwürdigen Lagern und will eindeutig ein Signal der Abschreckung an die Geflüchteten senden. Die Nachricht, die ausgesendet wird, ist letztlich: Bleibt lieber in den libyschen Folterlagern, bei uns werdet ihr nämlich auch miserabel behandelt.

Ich möchte nochmals auf die Rede zur Lage der EU von Ursula von der Leyen zurückkommen. Sie erklärte, dass die Rettung von Menschenleben auf See nicht optional sei. Johansson wiederum betonte während der Pressekonferenz, dass die Seenotrettung der EU nicht verstärkt, aber lediglich eine Zusammenarbeit mit NGOs angestrebt werde, die Seenotrettung leisten. Wie bewertest Du den Pakt in Bezug auf die Rolle und Verantwortung der EU im Mittelmeerraum?

Die Seenotrettung wird durch den Pakt nicht gestärkt, sondern nur eine unverbindliche Empfehlung an die Mitgliedstaaten ausgesprochen, Seenotretter*innen nicht zu kriminalisieren. Die Kommission regt aber an, die Sicherheitsanforderungen an NGO-Rettungsschiffe zu erhöhen, wodurch kleine NGO-Schiffe in der Praxis nicht mehr operieren könnten. Somit würde die Kommission effektiv Seenotrettung verhindern. Die Rettung von Geflüchteten wird also nicht gestärkt – im Gegenteil. Außerdem sollen aus Seenot Gerettete zukünftig wie Asylsuchende an den Landgrenzen behandelt werden und sollen die Vorprüfung und Asylverfahren durchlaufen, während sie in geschlossenen Haftlagern an den Außengrenzen untergebracht sind. Im Ergebnis liegt die Herausforderung weiterhin bei den südlichen Mitgliedstaaten und Seenotretter*innen können immer noch kriminalisiert werden, auch wenn dies der Empfehlung der Kommission widerspricht. Statt einer staatlichen oder europaweiten Seenotrettung im Mittelmeer wird so eine Mauer aus Ertrunkenen errichtet.

Das von der Kommission vorgelegte Paket ist ein herber Rückschlag für alle, die sich für eine menschenrechtsorientierte Asyl- und Migrationspolitik der EU einsetzen. Es kommt offensichtlich Regierungen sehr entgegen, die seit Jahren solidarische Lösungsansätze blockieren. Nun kam aber aus genau diesen Ländern schon laute Kritik. Wie bewertest Du diese Reaktionen und wie schätzt Du die Chancen ein, dass der Vorschlag verabschiedet wird?  

Die Kommission ist Staaten mit rechtspopulistischen Regierungen wie in Ungarn und Polen wirklich sehr stark entgegengekommen und sie lehnen den Kommissionsvorschlag trotzdem ab, weil sie jede verpflichtende Umverteilung ablehnen. Das zeigt doch, dass man mit Politikern wie Viktor Orbán oder Jarosław Kaczyński nicht an Lösungen arbeiten kann, weil sie nicht an Lösungen interessiert sind. Wir brauchen stattdessen eine Koalition der Willigen, die vorangehen. Nicht nur die Nationalstaaten, sondern auch die vielen europäischen Kommunen, die aufnahmebereit sind und sich in Bündnissen wie der Seebrücke organisieren. Oder auch Länder wie Berlin und Thüringen, die Landesaufnahmeprogramme machen wollen, die derzeit leider von Herrn Seehofer blockiert werden.

Ich persönlich halte es für unwahrscheinlich, dass der Kommissionsvorschlag in dieser Form durch das Europäischen Parlament und den Europäischen Rat kommt. So wie der Vorschlag derzeit vorliegt, macht mich das aber auch nicht traurig. Bislang bietet der Vorschlag nämlich keine gute Grundlage für eine solidarische europäische Flüchtlingspolitik, in deren Fokus die Menschenrechte stehen.

Erik, wir danken Dir für das Gespräch.