Ende von Roe v. Wade: Datenschutzgesetz als demokratische Rückversicherung

Kommentar

Ein nationales Datenschutzgesetz in den USA wäre nach dem Supreme-Court-Urteil zur Abtreibung ein wichtiges Signal für Demokratie und Bürgerrechte. Einen Entwurf gäbe es – aber es ist fraglich, ob der politische Wille ausreicht.

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Demo vor dem Supreme Court

Datenrechte sind Menschenrechte. Ohne Kontrolle über die eigenen Daten gibt es im digitalen Zeitalter keine Privatsphäre. Privates öffentlich zu machen, sollte eine bewusste Entscheidung sein – keine Falle, in die wir gehen, sobald wir digitale Spuren hinterlassen.

In den USA fürchten viele Frauen und Menschen, die schwanger werden können, dass diese Falle zuschnappt, nachdem der Supreme Court das Recht auf Abtreibung gekippt hat. Das Urteil ebnet den Weg für eine Lawine von Gesetzen in konservativen Bundesstaaten, die Schwangerschaftsabbrüche stark einschränken oder ganz verbieten. Intime Daten, die von privaten Unternehmen gesammelt wurden – über Perioden-Apps, Google-Suchen oder Beiträge in sozialen Medien – aber auch Standortdaten, die etwa den Aufenthalt in der Nähe einer Abtreibungsklinik preisgeben, könnten in diesen Staaten bald gegen eine Person verwendet werden, gegen die ein Verdacht besteht, eine Schwangerschaft beendet zu haben oder dies zu planen.

Datenschutzgesetz als Rückversicherung

Es wirkt wie eine Ironie, dass der Kongress ausgerechnet in diesen Wochen so intensiv wie nie über ein Datenschutzgesetz berät. Im Entwurf für den American Data Privacy and Protection Act (ADPPA) zeichnet sich erstmals ein Kompromiss zu zwei Punkten ab, an denen eine Einigung bisher gescheitert war. Die Demokraten würden akzeptieren, dass eine nationale Regelung Gesetze einzelner Bundesstaaten überlagern würde (pre-emption). Die Republikaner müssten zulassen, dass Privatpersonen die Möglichkeit haben, Unternehmen wegen Datenschutzverletzungen zu verklagen (private right of action).

Ein polarisierter Kongress könnte mit der Verabschiedung seine Handlungsfähigkeit beweisen – bevor die Zwischenwahlen im November die Lähmung mit einer republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus zementieren könnten. Eine gesetzliche Grundlage für den Datenschutz wäre eine demokratische Rückversicherung für alle, die die Bürgerrechte in den USA nach dem Urteil bedroht sehen. Wenn es nach dem konservativen Richter Clarence Thomas ginge, stünden nämlich bald auch der Zugang zu Verhütungsmitteln und die gleichgeschlechtliche Ehe zur Disposition.

Verbessert das Gesetz das Verhältnis zur EU? 

Der Gesetzentwurf, der nun im Handelsausschuss des Repräsentantenhauses diskutiert wird, enthält Elemente der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Das Prinzip der Datenminimierung erlegt Unternehmen und anderen Organisationen auf, nicht mehr Daten zu sammeln, als für die Erfüllung einer Leistung „vernünftigerweise notwendig“ sind. Die Kontrolle der Nutzer*innen über ihre Daten wird gestärkt. Sie haben Anspruch auf Einsicht, Korrektur oder Löschung sowie auf Mitnahme ihrer Daten bei einem Wechsel zu einem anderen Dienst. Sie können den Verkauf ihrer Daten an Werbetreibende verweigern. Für sensible Daten wie Pass- und Bankinformationen sowie Informationen zu Gesundheit, Minderheitenstatus oder sexueller Orientierung, gilt ein strengerer Schutz.

Der Entwurf enthält außerdem ein Verbot für personalisierte Werbung für Teenager bis 17 Jahre und er verbietet das Sammeln von Daten zu Zwecken der algorithmischen Diskriminierung. Ein amerikanisches Datenschutzgesetz könnte sogar das Verhältnis zur EU verbessern, hofft man im politischen Washington. Es könnte helfen, einen Deal zu transatlantischen Datenflüssen mit der EU zu besiegeln, sagte Cameron Kerry von der Brookings Institution in einer Podcast-Episode des Thinktanks. Die EU und die USA ringen um eine Neuauflage des Privacy-Shield-Abkommens, das vom Europäischen Gerichtshof 2020 für ungültig erklärt worden war.

Für europäische Ohren klingt es allerdings etwas vermessen, wenn Kerry den USA gar eine globale „Führungsrolle“ für den Datenschutz voraussagt. Das amerikanische Opt-Out-Modell für die Zustimmung zur Datenverarbeitung gilt als schwächer als die EU-Lösung, bei der der Konsens explizit erteilt werden muss. Zudem hat der US-Entwurf Lücken bei der Anwendung. So sind etwa Strafverfolgungsbehörden vom Sammelverbot für sensible Daten ausgenommen. In der aktuellen Situation ist es schwierig, hier nicht an Kameras mit Gesichtserkennungssoftware vor Abtreibungskliniken zu denken.

Von diesen Unterschieden abgesehen, würde auch ein höherer Datenschutz in den USA an der Grundlage des Privacy-Shield-Urteils nichts ändern: der Gefahr der Überwachung von EU-Bürger*innen durch die US-Geheimdienste. Aber für europäische Daten auf US-Servern gälte immerhin, was auch für die Daten einer Amerikanerin in Alabama der Fall wäre, die strafrechtliche Verfolgung nach einer Abtreibung fürchtet: Wo weniger Daten gesammelt würden, ließe sich auch weniger abgreifen.

Datenschutz im Kulturkampf

In amerikanischen Datenschutzkreisen herrscht weitgehender Konsens darüber, dass der aktuelle Entwurf im rechtlichen und politischen System der USA auf absehbare Zeit die realistischste Option ist. Neu ist auch, dass große Teile der Zivilgesellschaft und Industrie hinter dem Entwurf stehen.

In einer Anhörung im Repräsentantenhaus am 14. Juni signalisierten Datenschutzorganisationen und Industrieverbände ihre Zustimmung. „Ich glaube, dass dies unsere beste Chance ist, in einem umfassenden Gesetz zu regeln, wie Daten gesammelt, verwendet und geteilt werden“, sagt auch Gabriela Zanfir-Fortuna, Vize-Präsidentin für globalen Datenschutz beim Future of Privacy Forum, das sich dem Dialog zwischen Industrie, Forschung und Verbraucherschutzorganisationen verschrieben hat.

Aber niemand hat Illusionen, dass es einfach wird – der Teufel liegt im Detail und der Konsens zeigt bereits Risse. Im Repräsentantenhaus wird noch um Änderungen gerungen. Im Senat findet die Demokratin Maria Cantwell, Senatorin für den Bundesstaat Washington und Vorsitzende des Handelsausschusses, laut einem Bericht der Washington Post den bisherigen Entwurf nicht stark genug. Aus ihrem Lager kamen nach einem weiteren Bericht der Zeitung nach der Supreme-Court-Bombe zur Abtreibung neue Forderungen nach Nachbesserung zum Schutz von reproduktiven Gesundheitsdaten. Damit droht auch der Datenschutz, eines der wenigen Themen, bei dem überparteiliche Kooperation noch möglich schien, in den Strudel des Kulturkampfes gezogen zu werden.

Egal wie das Ringen ausgeht – der öffentliche Druck auf die Tech-Industrie dürfte weiter steigen, meint Justin Brookman, Direktor für Verbraucherschutz und Technologiepolitik bei Consumer Reports. Seine Organisation hat bereits eine Reihe von datenschutzfreundlichen Zyklus-Apps identifiziert. „Es wird wahrscheinlich Leute geben, die gegen Abtreibung und für mehr Überwachung sind. Aber ich denke, dass mehr Menschen sich Sorgen machen, was mit ihren eigenen Daten in Apps und Internetsuchen passiert.“ Der Schutz persönlicher Informationen geht am Ende eben doch alle an, unabhängig von Politik und Religion.

Dieser Beitrag ist zuerst bei Tagesspiegel Background Digitalisierung & KI erschienen.