Tabu Schwangerschaftsabbruch – Interview zum Film „WIE WIR WOLLEN“

Interview

Im Juli 2022 wurde das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche vom Bundestag gestrichen – ein Erfolg jahrzehntelanger Widerstände. Als Beitrag zu diesen Protesten ist der Film „WIE WIR WOLLEN“ entstanden, bei dem Sara Dutch und Mely Sien Min Lyn als Teil des Kollektiv KINOKAS Regie geführt haben. Im Interview sprechen die beiden über den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, aktivistisches Filmemachen und die Verknüpfung zwischen der Pro-Choice-Bewegung und den Kämpfen von be_hinderten Personen.

Lesedauer: 12 Minuten

SLU: Ihr seid Teil des Kollektiv KINOKAS. Erzählt doch bitte einmal: Wer seid ihr?

Sara: Das Kollektiv hat sich um das Projekt gegründet. Angefangen haben wir 2018. Ich habe den Film geschrieben und dann Mely kontaktiert – wir kannten uns aus einer aktivistischen Pro-Choice-Gruppe. Und ich habe zwei andere Kolleginnen angefragt, die an der filmArche studiert haben, einer selbstorganisierten Filmschule in Berlin. Daraus hat sich ergeben, dass andere Personen von dieser Schule dann zu uns gekommen sind und Teil des Kollektivs geworden sind. Es ist eine ziemlich offene Struktur und Menschen bringen sich so ein, wie es ihnen gerade passt.

Mely: Und das Kollektiv besteht nur aus Frauen und nicht-binären Personen. Das haben wir bewusst entschieden, um diesen Film zu drehen.

SLU: Arbeitet ihr auch nach dem Projekt weiter zusammen oder habt ihr euch nur für dieses eine Projekt zusammengetan?

Sara: Als Kollektiv KINOKAS haben wir bisher nur das Projekt gemacht. Einige von uns arbeiten in anderen Konstellationen weiter zusammen. Aber wir haben für den Film ja 50 Erfahrungsberichte gedreht und wollen diese Erfahrungsberichte noch einzeln auf unserer Website veröffentlichen - als Archiv von dem Projekt und auch, um noch mehr Pro-Choice-Inhalte ins Netz zu stellen. Wir versuchen gerade, Geld zu bekommen, damit wir im Sommer eine kleine Residenz machen können, um das fertig zu stellen, denn die Berichte müssen noch zusammengeschnitten werden.

SLU: Ihr habt bei dem Film „WIE WIR WOLLEN“ Regie geführt. Erzählt bitte kurz, worum es in diesem Film geht.

Sara: Also, wir haben als Ausgangspunkt den Fall Kristina Hänel genommen. Kristina Hänel ist eine Ärztin, die 2017 zu einer Strafe von 6000€ verurteilt wurde, weil sie auf ihrer Website bekanntgegeben hat, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Sie wurde auf Grundlage des Paragrafen 219a verurteilt. Dieser Paragraf wurde mittlerweile gestrichen, aber damals gab es ein Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, was eigentlich ein Informationsverbot war. Ausgehend von diesem Fall haben wir in dem Film viele Erfahrungsberichte gesammelt, wie es ist, in Deutschland einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Die Erfahrungsberichte machen sichtbar, wie sich ein Abbruch anfühlt, welche Hürden es gibt und warum das so kompliziert ist. Darüber hinaus haben wir das Thema auch in einen theoretischen Rahmen eingebettet: in reproduktive Gerechtigkeit.

Mely: Der Film wird getragen von den 50 Erfahrungsberichten. Die Personen, die wir interviewt haben, erzählen kollektiv und multiperspektivisch von der Erfahrung, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Wir betrachten das auch aus einer geschichtlichen Perspektive und verknüpfen unterschiedliche Aspekte der reproduktiven Gerechtigkeit.

SLU: Was versteht ihr unter reproduktiver Gerechtigkeit?

Sara: Das bedeutet, dass Menschen eine freie Entscheidung treffen können, ob sie eine Schwangerschaft austragen möchte oder nicht. Dazu gehört auch, dass Personen das Recht haben, so viele Kinder zu haben, wie sie wollen, das Recht, eine Familie gründen und zusammenführen zu dürfen und das Recht, Kinder in Sicherheit aufziehen zu können. Das heißt reproduktive Gerechtigkeit betrachtet das Thema körperliche Selbstbestimmung intersektional.

SLU: Ihr sprecht in dem Film auch die aktuelle rechtliche Lage in Deutschland an. Dabei kommen immer wieder die Paragrafen 218 und 219a im Strafgesetzbuch zur Sprache. Könnt ihr bitte einmal kurz erklären, was diese Paragrafen regeln?

Sara: 218 ist ein Paragraf, der im Strafgesetzbruch, so wie auch Mord (Paragraf 211) und Totschlag (Paragraf 212) steht und sagt, dass Schwangerschaftsabbrüche eine Straftat sind. Demnach stehen Personen, die Abbrüche durchführen oder vornehmen lassen, unter Strafe, wenn sie das nicht unter bestimmten Bedingungen machen. Das bedeutet, die Person muss sich einer Pflichtberatung unterziehen, die durch einen vom Staat anerkannten Träger durchgeführt wird, dann muss sie eine 72-stündige Bedenkzeit abwarten und dann kann sie den Abbruch durchführen lassen, aber nicht bei der Person, die die Beratung durchgeführt hat. Das Ganze muss aber in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft geschehen. Wenn eine Person einen Abbruch später als in der zwölften Schwangerschaftswoche im Ausland durchführen lässt, wo das legal ist, könnte die Person in Deutschland nach der Rückkehr trotzdem unter Strafe stehen. 219a war das Werbeverbot. Ärzt*innen, die Abbrüche durchgeführt haben, durften das nicht öffentlich sagen. Im Jahr 2019 wurde der Paragraf reformiert. Dann durften Ärzt*innen bekanntgeben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, aber nicht, welche Methode sie anwenden. Jetzt in 2022 wurde der Paragraf gestrichen und Ärzt*innen dürfen das offen kommunizieren.

SLU: Der Paragraf 219a ist jetzt also gestrichen. Was hat sich damit verändert? Welche Probleme, die der Film thematisiert, sind weiterhin aktuell?

Mely: Mit der Streichung von 219a hört hoffentlich die Kriminalisierung von Ärzt*innen auf. Wegen dieses Paragrafen wurden Ärzt*innen in jüngerer Geschichte jahrelang systematisch angezeigt. Die Versorgungslage hat darunter gelitten, weil Ärzt*innen wegen diesem Druck teilweise ihre Angebote zurückgezogen haben. Außerdem werden Abtreibungen nicht regulär an Medizinunis gelehrt. Es bleibt also weiterhin ein Problem, dass so wenig Ärzt*innen Schwangerschaftsabbrüche anbieten, vor außerhalb vom urbanen Raum.

Sara: Grundsätzlich ist es so, dass Schwangerschaftsabbrüche keine Kassenleistung sind, weil es sich ja auch um eine Straftat handelt. Wenn eine Person unter einer bestimmten Einkommensgrenze ist, werden die Kosten vom Bundesland übernommen. Aber dazu muss sie ein Formular ausfüllen, was eben eine weitere Hürde ist. Und dieser finanzielle Aspekt ist natürlich auch eine Hürde. Mit dem Finanziellen hängt auch zusammen, dass es oft nicht die Möglichkeit gibt, die Methode auszuwählen. Es bieten nur sehr wenige Ärzt*innen den medikamentösen Abbruch an, weil die Kenntnisse dafür nicht da sind und die Ärzt*innen das ungerne anwenden wollen. Viele bieten deshalb nur die Operation an. Operationen sind aber viel teurer als der medikamentöse Abbruch. Im Medizinstudium werden Abbrüche nicht mehr gelehrt, und deshalb gibt es seit 2010 40 Prozent weniger Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten. In manchen Regionen üben auch Anti-Choice-Aktivistinnen sehr viel Druck aus, damit Ärzt*innen aufhören Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Es werden zum Beispiel auch Vermieter von Räumlichkeiten unter Druck gesetzt, dass sie die Mietverträge mit Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nicht verlängern. Die Übernahme von Krankenhäusern durch christliche Träger ist auch ein Problem wegen der Anwendung der sogenannten Gewissensklausel, die besagt, dass man keinen Arzt dazu zwingen kann, Abbrüche durchzuführen. Was mir auch noch wichtig ist, ist dieser Einfluss von Deutschland international. Vor allem in den postkommunistischen Ländern in Mitteleuropa ist es oft so, dass Anti-Choice-Gruppen das Beispiel Deutschland nutzen, um den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen weiter einzuschränken. Zum Beispiel wurde in der Slowakei das Werbeverbot für Abbrüche eingefordert, was es dort bisher nicht gibt, und das Beispiel Deutschland wurde genutzt, um zu sagen „schaut, das ist Deutschland, das ist Europa, das ist unsere Zukunft; wenn die das dort so machen, sollten wir das hier auch so machen“. Und das zeigt eben, dass diese deutsche Gesetzgebung sehr viele negative Auswirkungen hat, nicht nur für Menschen, die in Deutschland wohnen, sondern auch in Europa.

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SLU: Wie ist die Idee entstanden, den Film zu drehen?

Sara: Die Idee ist 2018 entstanden, weil es da eine Mehrheit im Bundestag gab, um den Paragraf 219a zu streichen. Aber die SPD hat dann ihre Unterstützung für den Antrag zurückgezogen, um die Koalition mit der CDU nicht zu gefährden. Diese Wut darüber, dass es eigentlich möglich ist und eine gesellschaftliche und politische Mehrheit gibt, aber dass dieser Paragraf dann aus politischem Kalkül fortbestand, war die Motivation für den Film. Und obwohl der Paragraf fast 150 Jahre alt ist, gab es keinen Film im deutschsprachigen Raum, der das Thema politisch und systemisch betrachtet hat. Die Filme zu dem Thema waren eher Portraits, wo Einzelfälle dargestellt wurden, die Paragrafen wurden nicht erwähnt, es ging immer nur um persönliche Entscheidungen und eine sehr emotionale Aushandlung des Themas. Das ist auch sehr in Ordnung, bringt uns aber politisch nicht weiter. Und dann gab es die Idee, diesen Film als Beitrag zur Pro-Choice-Bewegung zu machen, also Film als politisches Objekt mit einem politischen Ziel.

SLU: Könnt ihr dieses politische Ziel konkretisieren? Wen und was soll der Film erreichen?

Sara: Das ist ein Thema, was alle Menschen angeht: abgesehen davon, dass Personen nicht alleine schwanger werden, ist es auch eine Frage, wie wir als Gesellschaft leben wollen. Es geht uns alle an, welche Körper welchen Einschränkungen unterzogen werden, wie der Staat Reproduktion regelt und wer in den Augen der Gesellschaft Kinder bekommen soll und wer nicht. Wir laden das Publikum ein, über diese Fragen nachzudenken, während und nachdem sie den Film gucken. Das tun wir aus einer ganz klaren Pro-Choice-Position. Wir tun nicht so, als wäre das neutral, sondern wir vertreten eine klare Haltung in dem Film.

SLU: In dem Film erzählen die Personen offen von ihren Abbrüchen. Das ist bei einem derart tabuisierten Thema nicht selbstverständlich. Es ist ja ganz wichtig, dieses Tabu auch zu brechen und über Schwangerschaftsabbrüche zu sprechen. Gleichzeitig sollen mit solchen Gesprächen natürlich keine Grenzen verletzt werden. Wie habt ihr das bei den Dreharbeiten gemacht?

Sara: Wir hatten dazu eine Methode: Wir haben bei jeder Person, die Interesse gezeigt hat, sich am Projekt zu beteiligen, zuerst ein Vorgespräch geführt. Dabei konnte die Person ihre Geschichte erzählen. Dann haben wir immer gefragt, ob es Sachen gibt, die die Person in der Drehsituation nicht erzählen möchte. Die Person hat also selbst bestimmt, was sie erzählen möchte und wie. Es gab keinen Interviewfaden oder Ähnliches. Jede Person hat selbstbestimmt ihre Geschichte erzählt und hatte auch die Kontrolle darüber. Nach dem Interview haben wir der Person immer das ganze Material gegeben und die konnte dann auch sagen, welche Teile nicht mit rein sollen. Und nachdem wir dann den Rohschnitt vom Film hatten, haben wir auch mit jeder Person noch einmal abgesprochen, ob sie damit einverstanden ist, welchen Teil des Interviews wir benutzt haben und ob das auch okay ist im Zusammenspiel mit den anderen. Denn es hat natürlich eine andere Wirkung, wenn ein Bruchteil des Interviews aus dem Kontext gerissen und mit anderen zusammengefügt wird. Das war uns auch sehr wichtig. Für uns bedeutet das kollektive Projekt nicht nur, dass wir als Kollektiv den Film gemacht haben, sondern auch dass wir versucht haben, so viel wie möglich die Interviewpartner*innen miteinzubeziehen. Wir wollten, dass alle sich gut damit fühlen.

SLU: Habt ihr irgendwelche Tipps, wie Kommunikation über Abbrüche auch in anderen Situationen sensibel funktionieren kann?

Sara: Auch grundsätzlich ist es bei diesem Thema wichtig, einen Raum zu öffnen, in dem die Person einfach frei erzählen kann und sich sicher sein kann, dass sie nicht verurteilt wird und dass die Entscheidung nicht infrage gestellt wird. Und wenn dieser Raum geschaffen wird, können und wollen Menschen auch frei erzählen.

SLU: Mich interessiert noch ein ganz anderes Thema brennend: In dem Film wird auch das Thema Pränataldiagnostik kritisch betrachtet. Was ist das?

Sara: Pränataldiagnostik ist ein medizinisches Verfahren, bei dem schwangere Personen untersuchen lassen können, wie hoch die Chance ist, dass das Kind vielleicht eine Fehlbildung oder eine Behinderung hat. Das Neueste ist ein Gentest, der auch innerhalb der ersten zwölf Wochen stattfinden kann.

SLU: Dieses Verfahren wird im Film kritisiert. Wie bringt ihr das mit einer Pro-Choice-Haltung zusammen und was hat das alles mit reproduktiver Gerechtigkeit zu tun?

Sara: Was wir kritisieren, ist, dass diese Tests von der Krankenkasse übernommen werden. Das sind keine Tests, die dazu führen, dass etwas medizinisch für ein Kind gemacht werden kann, sondern es geht sozusagen ums Aussortieren. Und dann stehen Eltern auch bei einer gewollten Schwangerschaft vor der Entscheidung, ob sie dieses Kind haben wollen. Und in einer Gesellschaft, die extrem be_hindertenfeindlich ist, ist es sehr schwierig für Eltern, ein be_hindertes Kind großzuziehen, weil die Gesellschaft nicht zugänglich ist, weil es wenig finanzielle Unterstützung gibt und Eltern damit teils allein gelassen werden. Es geht nicht darum, zu sagen, dass Menschen schlecht sind, die eine Schwangerschaft bei einer solchen Diagnose abbrechen. Es geht darum, anzumerken, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es für Personen mit Be_hinderungen schwieriger und schwieriger wird, weil eben viele gewünschte Schwangerschaften dann abgetrieben werden, wenn eine solche Diagnose kommt. Das ist ein Thema, das auch innerhalb der Pro-Choice-Bewegung heiß diskutiert wird, wo sich viele Menschen nicht trauen, darüber zu reden. Denn sie denken, dass man gleich Anti-Choice ist und diese Entscheidungsfreiheit nehmen will, wenn man solche Verfahren kritisiert. Sie denken, dass Selbstbestimmung heißt, eine Person könnte alles entscheiden. Natürlich heißt es das, aber es muss eben auch bedacht werden, dass es keine Selbstbestimmung geben kann in einer Gesellschaft, die von solchen Unterdrückungsstrukturen geregelt wird.

SLU: Welche Entwicklung wünscht ihr euch für die nächsten Jahre?

Mely: Ganz klar die Abschaffung von Paragraf 218

Sara: Und natürlich auch die Abschaffung vom Transsexuellengesetz und somit gleiche Rechte für trans* und queere Personen, was den Zugang zu medizinischen Angeboten und Familiengründung angeht, die Abschaffung des Grenzregimes, mehr Unterstützung für Familien jeder Art und eine inklusivere Gesellschaft für Personen mit Behinderung.

SLU: Gibt es noch etwas, was ihr den Leser*innen von dem Interview mitgeben möchtet?

Sara: Dass es sehr wichtig ist, Pro-Choice-Gruppen und Frauen und alle Menschen, die schwanger werden können, in Polen zum Beispiel zu unterstützen. Auch Women on Web, die Abtreibungspillen verschicken, die brauchen auch gerade massiv Unterstützung, finanziell vor Allem, wegen der Situation in den USA. Uns ist es sehr wichtig, zusammenzuhalten und auch auf der EU-Ebene eine starke Lobby zu bilden, weil Anti-Choice-Kräfte sehr gut international vernetzt sind, finanziell viel besser dastehen als die pro-Choice-Bewegung und auch auf der EU-Ebene versuchen, diese konservative, queerphobe, xenophobe, patriarchale Agenda durchzusetzen. Wir können nicht erst reagieren, wenn es zu spät ist, und deshalb ist es sehr wichtig, hier aktiv zu sein.  

Das Interview führte Vera Wagner, FSJlerin der Stiftung Leben & Umwelt / Heinrich-Böll-Stiftung Niedersachsen.