Widerstand gegen rechts: Warum erst jetzt?

heimat.kolumne

Die Correctiv-Recherche hat ausgelöst, was lange vermisst wurde: Einen breiten gesellschaftlichen Widerstand gegen rechts. Anlässe dafür hätte es in der Vergangenheit genug gegeben: Der rechte Terror von NSU bis Hanau, Anschläge auf Geflüchtetenunterkünfte oder Gewalt gegen Kommunalpolitiker*innen haben aber nicht Hunderttausende auf die Straße gebracht. Warum also jetzt, fragt sich unser Kolumnist Hakan Akçit und plädiert dafür, die Feinde der Demokratie mit allen Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen.

Lesedauer: 8 Minuten
Teaser Bild Untertitel
Demonstration "Gemeinsam gegen Rechts" auf dem Opernplatz in Hannover am 20. Januar 2024

Seit den Enthüllungen des Medienhauses Correctiv vom 10. Januar 2024 über ein Treffen von Vertretern aus Politik, Wirtschaft und dem rechtsextremen Spektrum, bei dem konkret über einen Masterplan referiert wurde, wie man sich im Falle einer Machtübernahme aller Migrant:innen und politischen Gegner entledigen sollte, vergeht kaum ein Wochenende, an dem nicht in deutschen Städten bundesweit gegen Rechtsextremismus, Rassismus und die AfD demonstriert wird. Doch was genau führte eigentlich zu diesem Weckruf, der breite Teile der sonst eher phlegmatischen Mitte der Gesellschaft aus ihrem Tiefschlaf riss und sie daran erinnerte, dass es in einer wehrhaften Demokratie auch gilt, diese gegen Verfassungsfeinde zu verteidigen?

Besser spät als nie: Die Mitte der Gesellschaft wird endlich laut

Es waren weder die rechtsterroristischen Morde des NSU, der im Zeitraum von 2000 bis 2007 neun Migranten und eine deutsche Polizistin geradezu hinrichtete, noch die unvollständige Aufklärung bzw. Aufarbeitung dieser terroristischen Verbrechen, die eher weitere Fragen aufwarf, insbesondere über den fragwürdigen Einsatz von V-Männern und die, nennen wir es mal, unglückliche Rolle des Verfassungsschutzes. Es war nicht der politisch motivierte Mordanschlag an Walter Lübcke, den ein Rechtsextremer kaltblütig ausführte. Auch war der Anschlag von Hanau nicht der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nicht die vielen rassistischen und antisemitischen Nachrichten in diversen Chat-Gruppen auf Messenger-Diensten, die von Mitgliedern der Sicherheitsbehörden geschrieben wurden, nicht der Zugriff des NSU 2.0 auf sensible Daten von Bürger:innen, nicht die Drohungen oder die Gewalt gegen Kommunalpolitiker:innen oder die rassistische und fremdenfeindliche Hetze verschiedener AfD-Politiker:innen, die auf politischen Veranstaltungen unverblümt und nahezu straffrei betrieben wurde, waren Auslöser für die aktuellen Demonstrationen.

Viele dieser Taten und Ereignisse, die eigentlich ein Beweis dafür sind, wie sehr die Gefahr seitens des Rechtsextremismus wächst und wie tief verwurzelt der latente Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit in vielen Teilen der Gesellschaft sind, wurden von der Mehrheit der Bevölkerung zwar durch die Berichterstattungen der Medien registriert, aber eher beiläufig, passiv und ohne angemessene Reaktion. Dabei müssten eigentlich all diese Ereignisse die Schamesröte in die Gesichter aller aufrechten Demokrat:innen treiben und ein jeder müsste sich die Frage stellen: in welche braune Gewässer driftet Deutschland ab? Sind wir als weltweite Vorzeigedemokratie vom Kurs abgekommen oder warum sitzen wieder Rassisten und Rechtsextreme im Bundestag? Aber nichts dergleichen geschah. Bis zu dem Tag, als Correctiv über das besagte Treffen in einem Landhotel nahe Potsdam berichtete. Und plötzlich formierte sich der Widerstand gegen rechts und täglich nahmen mehr Menschen an den Demonstrationen teil. Aber warum gerade jetzt und nicht schon viel früher?

Das Wort Remigration war der Auslöser. Oder vielmehr das, was Rechtsextreme mit diesem Wort meinen. Remigration, quasi sich der "kulturfremenden Menschen" entledigen, sie abschieben, wegtransportieren, mit anderen Worten: deportieren, am besten mit einer wohltemperierten Grausamkeit, wie Höcke es schon 2018 beschrieb. Bei Deportation fiel es selbst den letzten schläfrigen Demokrat:innen wie Schuppen von den Augen: unweigerlich fühlte man sich an das dunkelste Kapitel, oder wie Gauland es einst bezeichnete, dem Vogelschiss, der deutschen Geschichte erinnert. Und diese Assoziation ist es letztendlich, die auch die müßige und in Lethargie verharrende Mitte der Gesellschaft auf die Straße trieb. Nicht die Morde an migrantischen Mitbürger:innen oder die vielen Brandstiftungen der letzten Jahre in den Flüchtlingsunterkünften. Die Massenproteste oder eine Mobilisierung, wie die aktuellen Demonstrationen, blieben damals leider aus und wenn man heute noch die Angehörigen und Hinterbliebenen der Opfer von Hanau oder des NSU über die Zeit nach den Mordanschlägen befragt, so empfinden alle das gleiche: sie fühlen sich von der Gesellschaft, der Politik und dem Staat im Stich gelassen.

Der Kampf gegen rechts beginnt im eigenen Umfeld

Doch wie effektiv sind die aktuellen Demonstrationen gegen rechts, die man auch in den 1990er Jahren nach Mölln und Solingen in Lichterketten erlebt hat, angesichts der Tatsache, dass seit den grauenvollen Brandanschlägen vor 30 Jahren und trotz der damaligen Bürgerinitiativen, rassistisch und rechtsextremistisch motivierte Morde weiterhin verübt wurden und die Zahl der Gewalttaten stetig zunimmt? Wehret den Anfängen, Nie wieder ist Jetzt oder Es ist fünf vor Zwölf sind Sprüche, die sich gut auf Plakaten machen und sicherlich einen Wahrheitsgehalt haben. Doch bleiben sie nur Lippenbekenntnisse, wenn man den Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus nicht auch im eigenen nahen Umfeld aufnimmt. Ein jeder muss sich fragen, was er/sie gegen den alltäglichen Rassismus unternimmt, der ihm/ihr auf der Arbeit, im Sportverein, beim Stammtisch, innerhalb des Freundeskreises und der Familie oder in den Sozialen Medien begegnet. Laut aktueller Umfragen und Politbarometer würden ca. 20 % der Wähler:innen in Deutschland eine rechtsextreme Partei wie die AfD wählen.  Jeder Fünfte also, dem man auf der Straße oder im Alltag begegnet, hätte statistisch gesehen kein Problem damit, wenn Menschen remigriert oder, wie es Gauland schon 2017 in Bezug auf die damalige Integrationsbeauftragte Aydan Özoğuz formulierte, in Anatolien entsorgt würden, ganz gleich ob deutsche Staatsbürger:innen oder Migrant:innen.

Wie verunsichert die deutsche Gesellschaft seit Jahren im Umgang mit rechtsextremen Hetzern und Wutbürgern ist, die sich überwiegend, aber nicht ausschließlich in der AfD tummeln, sieht man u.a. an der seit dem Jahr 2021 immer wiederkehrenden Debatte über die Präsenz rechter Verlage auf der Frankfurter Buchmesse. Nun hat sich in diesem Jahr auch die Leitung der Berlinale nicht mit Ruhm bekleckert. Dass mehrere AfD-Abgeordnete, die Mitglied im fachpolitisch zuständigen Kulturausschuss des Bundestags sind, erst offiziell zur Eröffnung der Berlinale 2024 eingeladen wurden, während seit Wochen hunderttausende von Menschen gegen rechts auf die Straßen gehen und erst dann ausgeladen wurden, als berechtigte Kritik an diesem Umstand geübt wurde, spiegelt das Dilemma wider, in dem sich die Gesellschaft samt ihrer sogenannten Brandmauer gegen rechts befindet. Dass man so unweigerlich und immer öfter das Toleranzparadoxon von Karl Popper bemühen muss, um auch dem hartnäckigsten Verteidiger des offenen Dialogs und der Toleranz gegenüber anderen Meinungen, seien sie auch noch so demokratie-, fremden- und menschenfeindlich, erklären zu müssen, dass die Toleranz mit Intoleranten letzten Endes zur Abschaffung der Toleranz selbst führen wird, ist nur der puren Verzweiflung geschuldet.

Mit allen Mitteln des Rechtsstaats

Viele von uns sind davon überzeugt, dass die einzige Möglichkeit, dem rechten Treiben in unserer Politik und Gesellschaft einen Riegel vorzuschieben, nur darin bestehen kann, nicht nur über ein AfD-Verbot zu sinnieren, sondern es auch mutig zu vollziehen. Und da wir gerade dabei sind, wäre es nur allzu konsequent, im Falle des Faschisten Björn Höcke ein Grundrechtsentzug (Artikel 18) anzustreben, anstatt dieses Thema nur wenige Tage medial lauwarm zu servieren. Wer von wohltemperierter Grausamkeit spricht, um ein groß angelegtes Remigrationsprojekt umzusetzen, und in seinen Reden regelmäßig NS-Vokabular verwendet, hat in der deutschen Politik nichts zu suchen. Mit müden Debatten bekämpft man keinen Rassismus und Rechtsextremismus. Den Kampf gegen Rechtsextremismus gewinnt man nicht mit dem Versuch, versteinerte braune Herzen zu erobern oder der rechten Hetze und dem rassistischen Hass ein verständnisvolles Ohr zu leihen. Man bekämpft die Feinde der Demokratie und des gesellschaftlichen Friedens mit allen Mitteln, die dem Rechtsstaat zur Verfügung stehen. Dazu gehören sowohl eine konsequente Strafverfolgung und lückenlose Aufklärung von rechtsextremistischen Straftaten, als auch die Durchsetzung von Maßnahmen gegen rechtsextreme Umtriebe in deutschen Sicherheitsbehörden und Institutionen.

Es ist gut und dringend nötig, was aktuell bundesweit in deutschen Städten geschieht. Ob nun endlich ein Ruck durch Deutschland geht oder die viel beschworene Brandmauer gegen rechts endlich sichtbar wird, bleibt abzuwarten. Es ist eindeutig noch zu früh, um sich gegenseitig auf die Schultern zu klopfen. In diesem Jahr stehen drei wichtige Landtagswahlen an. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg wird sich zeigen, in wie weit die Enthüllungen von Correctiv und die bundesweiten Demonstrationen den einen oder anderen Protestwähler davon abhalten werden, ihr Kreuz bei einer rechtsextremen Partei zu machen. Die migrantische Community ist da eher skeptisch und verhalten. Sie blickt dabei nicht nur mit Sorge auf die AfD und ihre potentiellen Wähler:innen – sondern auch auf jene Akteure in den demokratischen Parteien der Länder, denen es nicht gelingt glaubhaft zu machen, dass sie eine Zusammenarbeit mit der AfD tatsächlich ausschließen. Und mit Merz, Söder, Aiwanger und Kubicki, die sehr gerne als die vier apokalyptischen Reiter auftreten, droht auch ein blau-braunes Desaster in den Bundestagswahlen 2025.   

Die heimat.kolumne ist ein neues Format auf Heimatkunde. Hier mischen sich die Publizistin Liane Bednarz und der Schriftsteller Hakan Akçit regelmäßig in aktuelle Debatten rund um den Kampf gegen rechts und die Verteidigung der offenen, pluralen Gesellschaft ein. Liane Bednarz schreibt aus einer liberal-konservativen Perspektive mit Fokus auf die Abgrenzung von konservativem und neurechtem Denken, Hakan Akçit schreibt aus einer postmigrantischen Perspektive mit einem Fokus auf die Einwanderungsgesellschaft und den Kampf gegen Rassismus.