Selbstverständlich europäisch?! Der Auftrag für die EU-Ratspräsidentschaft

Analyse

Nach 13 Jahren übernimmt Deutschland am 1. Juli 2020 turnusgemäß wieder für ein halbes Jahr den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Dadurch steht hierzulande die Europapolitik verstärkt im Fokus der öffentlichen Debatte. ► Zu allen Inhalten der «Selbstverständlich europäisch?!» Studie.

Europapolitische Diskussionen sind hierzulande auch immer wieder von der Frage geprägt, welche Verantwortung Deutschland in der EU hat. Nicht selten ist davon die Rede, Deutschland sei „Zahlmeister Europas“ und leiste bereits genug für die EU.

 

Diese Argumentation ist ein Mythos, denn sie ignoriert den immensen wirtschaftlichen Nutzen durch den europäischen Binnenmarkt und die politischen Vorteile der EU für Deutschland. Sie lässt zudem ähnlich hohe Pro-Kopf-Beiträge anderer EU-Partner außer Acht.

Eine solche auf Ausgaben fixierte Betrachtung der Europapolitik tritt nun auch wieder in den Verhandlungen über das neue EU-Budget, den Mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2021-2027, zu Tage. Problematisch ist diese verzerrte Kosten-Nutzen-Wahrnehmung auch deshalb, weil sie eine Debatte über notwendige Reformschritte in der EU ausbremst.

Die Finanzierung gemeinsamer europäischer Projekte wird in erster Linie als unfaire „Last“ für Deutschland statt als Investition für einen gemeinsamen Nutzen verstanden. Eine Debatte über mögliche Übereinstimmungen und Verhandlungspotentiale von Vorschlägen zum Beispiel aus Frankreich wird so im Keim erstickt. Dieser Zustand lähmt Europa.  

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat gemeinsam mit dem Progressiven Zentrum im zweiten Jahr in Folge eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben, die solche vermeintlichen Selbstbilder mit den tatsächlichen Einstellungen der Deutschen abgleicht.

Wie sind die Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger von der Rolle Deutschlands in der EU tatsächlich? Und was erwarten sie konkret von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft? Das wichtigste Ergebnis ist, dass sich die klare Mehrheit der Deutschen eine aktive und kooperative Europapolitik wünscht und für mehr gemeinsame Ausgaben Deutschlands und seinen EU-Partnern in bestimmten Politikfeldern ist. 

Für ein aktive und kooperative Europapolitik 

Die EU-Zustimmung ist nach der Euphorie zu den Europawahlen 2019 wieder auf Normalniveau gesunken: 67,3 % der Deutschen sehen mehr Vor- als Nachteile in der EU-Mitgliedschaft. Im Vorjahr waren es noch 75,1 %. Den Nutzen der EU sehen die Deutschen heute in erster Linie politisch und in zweiter Linie wirtschaftlich: Zwei Drittel der Befragten sagen, dass Deutschland seine politischen Ziele eher mit der EU erreichen kann. 56,2 % sind der Meinung, dass der Nutzen der EU-Mitgliedschaft rein wirtschaftlich gesehen die Kosten überwiegt.

Eine klare Mehrheit der Deutschen von jeweils über 70 % wünschen sich ein aktives und kooperatives Auftreten Deutschlands in der EU - nur 46,7 % bewerten das deutsche Verhalten der letzten Jahre als aktiv in der EU. Im Umkehrschluss wünscht sich eine klare Mehrheit der Deutschen also einen aktivere deutsche Europapolitik.

Für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wünschen sich die Bürgerinnen und Bürger, dass die Bundesregierung vor allem bei den Themen Klima- und Umweltschutz , Migration und Asyl sowie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie Fortschritte erzielt. Mit Blick auf konkrete politische Vorhaben, liegt die Einführung der EU-Digitalsteuer vorne, gefolgt von der Erhöhung des EU-Klimaziels 2030 und der Schaffung einer EU-Armee.

Mehr gemeinsame Ausgaben für europäische Politik 

Eine knappe Mehrheit von 50,9% hält den finanziellen Beitrag Deutschlands zum EU-Budget nicht für zu hoch. 46,7% meinen das Gegenteil. Das sind vor allem Menschen mit niedriger formaler Bildung sowie solche, die in ländlichen Gebieten oder Ostdeutschland leben. Bei den parteipolitischen Lagern findet nur eine Mehrheit in der Anhängerschaft der AfD (92,2 %) und FDP (60,0 %) den deutschen Beitrag zu hoch, alle anderen halten ihn für nicht zu hoch.

Dagegen befürworten 95,5% der Deutschen mehr gemeinsame Ausgaben von Deutschland und den EU-Partnern in bestimmten Politikfeldern. Oben auf der Agenda der Bürgerinnen und Bürger stehen die Bereiche Innovationen und Forschung, Klima- und Umweltschutz sowie soziale Absicherung.

Handlungsfähiges Europa 

Die EU-Ratspräsidentschaft ist für Deutschland Chance und Verantwortung zugleich. Neben aktuell anstehenden Themen kann die Bundesregierung durch ihre Agenda-Setting- und Moderationsfunktion eigene politischen Prioritäten setzen. Die Umfrage zeigt, dass die Deutschen sehr wohl bereit sind in konkrete, zukunftsorientierte gemeinschaftliche Projekte in Europa mehr Geld zu investieren. Die Studie formuliert auf Basis der Umfrageergebnisse Impulse zu folgenden Themen:

Der Rückgang bei der Zustimmung zur EU muss im Kontext zahlreicher ungelöster innenpolitischer und außenpolitischer Fragen der EU gesehen werden. Die Handlungsfähigkeit Europas hängt jedoch auch vom Handlungswillen Deutschlands ab. Zuletzt wuchs gerade die Kritik vom Partner Frankreich an der Lethargie der Bundesregierung.

Die Ratspräsidentschaft bietet die Chance, den im Koalitionsvertrag versprochenen „Aufbruch für Europa“ endlich zu liefern. Deutschland sollte auch vor „dicken Brettern“ wie der Asylpolitik oder Rechtsstaatlichkeit in diesen sechs Monaten nicht zurückschrecken. Das erwarten neben den Bürgerinnen und Bürger auch die EU-Partner von der Bundesregierung.

EU-Budget mit gemeinsamer Vision

Die Aufgaben der EU haben über die Jahre stark zugenommen, auch weil sie auf nationaler Ebene nicht mehr nachhaltig gelöst werden können. Umso gefährlicher ist es, wenn in der Debatte um den mehrjährigen Finanzrahmen fälschlicherweise der „Zahlmeistermythos“ reaktiviert wird.

Auch die Umfrage hat gezeigt, dass sich die Deutschen nicht als „Zahlmeister Europas“ fühlen. Die MFR-Debatte sollte vielmehr von den politischen Zielen her geführt werden, also die Zukunftsaufgaben, für die es sich zu investieren lohnt. Für Zahlen, noch weniger für Ausgaben, lassen sich Menschen nicht begeistern – für konkrete Visionen sehr wohl.

Selbstverständlich europäisch?! - Heinrich-Böll-Stiftung

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Transformation kooperativ und gerecht gestalten

Eine Diskrepanz zwischen Deklaration und Aktion gibt es in der deutschen EU-Politik vor allem mit Blick auf die sozial-ökologische Transformation („European Green Deal“). Im wichtigen fünften Jahr des Pariser Klimaabkommens, erweist sich Deutschland als Bremse für die notwendige Erhöhung des EU-Klimaziels 2030.

Auch finanziell muss die EU-Klimawende (durch Umschichtungen und Aufstockungen im Haushalt) besser ausgestattet werden, allen voran der „Just Transition Fonds“, der z.B. auch deutsche Kohleregionen unterstützt.

Die Umfrage hat schließlich gezeigt, dass bei den ökonomisch vulnerablen Gruppen der Bevölkerung der Glaube an den Nutzen der EU sinkt, wenn die Wirtschaftslage insgesamt pessimistischer bewertet wird. Die EU muss sich stärker um diese Menschen kümmern. Eine tiefgreifende Transformation lässt sich nur auf breiter öffentlicher Akzeptanz und Solidarität aufbauen. 

Amibtionierte Ziele für die EU-Ratspräsidentschaft 

Die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sind sowohl hierzulande als auch bei den EU-Partnern groß. Deutschland trägt als bevölkerungsreichstes und wirtschaftsstärkstes Land eine große Verantwortung für die Überwindung der Handlungsstarre der EU.

Um der Verantwortung gerecht zu werden, muss sich die Bundesregierung von ihrer europapolitischen Lethargie befreien und endlich das umsetzen, was sie im Koalitionsvertrag versprochen hat. Dafür ist wichtig, konkrete Ziele für die deutsche Europapolitik zu formulieren, andere Länder dafür mit ins Boot zu holen und eine Einigung über geeignete Maßnahmen zu erzielen.

Ein solcher Ansatz stünde in der Tradition der großen Europäer unter den Bundeskanzlern des letzten Jahrhunderts, denen der Wert Europas stets feste Überzeugung und Richtschnur des politischen Handelns gewesen ist. Die EU-Ratspräsidentschaft ist eine große Chance für Deutschland, den schon lange angekündigten Neustart in der Europapolitik zu vollziehen. Die Bundesregierung sollte sie jetzt nutzen.