Identitätspolitik gab es schon immer. Wie umgehen mit der Unschärfe des Begriffs? Ein Vorschlag

Identität“ kommt vom lateinischen Wort "idem" und das bedeutet: derselbe, dasselbe. Nun wissen wir spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts und der Auseinandersetzung rund um die menschliche Psyche, dass die menschliche Seele nie mit sich selbst gleich ist, sondern widersprüchlich und veränderlich. Um nur ein Spannungsfeld zu nennen, welches das menschliche Seelenleben strukturiert: das Unbewusste ist nicht identisch mit dem Bewussten.

Identität als Gefühl und Wissen von sich selbst wird Menschen also nicht per Geburt mitgegeben, sondern entwickelt sich über die Jahre. Damit beschreibt Identität den Dialog zwischen Individuen und Gesellschaft. Identität als Gefühl und Wissen von und für sich selbst steht in Beziehung zu gesellschaftlichem und individuellem Lernen, Erfahrungen und kollektiven Haltungen und Regelungen, und ist gleichzeitig immer sehr persönlich. Kurzum: Das Problem mit der Identitätspolitik fängt bereits mit dem Begriff „Identität“ an. Dieser scheint vor allem einer Sehnsucht geschuldet, ein für alle mal zu wissen, wer ich bin. Doch Identität ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Sie gründet auf viele Faktoren und entwickelt sich dabei maßgeblich in dem Spannungsfeld zwischen Stillstehung und Veränderung.

Wenn aber Identität“, so schreibt Soziolog*in Sabine Hark in einem von Die Zeit veröffentlichten Essay bereits 2019 „gerade nicht eine Sache des Wesens ist und ohnehin nie nur eine Sache, sondern stets offen und im Werden befindlich, letztlich eine Sache des Erzählens, gibt es immer Identitätspolitik, das heißt eine Politik der Position und der Positionalität. Identitäten, mit anderen Worten, sind das Ergebnis von Erzählungen, mit denen Individuen und Kollektive sich politisch, historisch und kulturell verorten – und, vielleicht mehr noch, verortet werden.“

Was heißt das?

Wenn bereits die individuelle Identität in Beziehung steht zu gesellschaftlichen Spannungsfeldern, zu Geschichten und Zuschreibungen, dann gilt das umso mehr für das Phänomen der Identitätspolitik. Dann ist das Politikmachen mit Fremd- und Selbstbeschreibungen immer schon Teil gesellschaftlicher Debatten um Zugehörigkeit und Differenz. Sprich: Identitätspolitik ist Teil von Gesellschaft und Gesellschaft in Teilen Identitätspolitik. Identitätspolitik ist damit ein Sammelbegriff. Seine Bedeutung ist nicht nur unscharf definiert, sondern: Es finden sich alle möglichen, und auch ganz und gar widersprechende politische Konzepte in diesem Wort-Behälter. So kann Identitätspolitik dem Erhalt oder der Überwindung von Hierarchien dienen. Das hängt vom jeweiligen politischen Standpunkten und Perspektiven ab.

Hegemoniale Identitätspolitik teilt Gesellschaft in Gruppen ein und weist diesen eine festgefügte Rangordnung zu. Derzufolge sind Männer stärker und rationaler, folglich bessere Bürger als Frauen. Als weiß identifizierte Menschen gelten dieser Perspektive nach insgesamt als kultivierter als beispielsweise Schwarze Menschen, Einheimische seien besser als Zugereiste. Die Liste der hierarchischen Festschreibungen lässt sich fortsetzen.

Bereits die Französische Revolution war Ausdruck von Identitätspolitik: Der Aufstand gegen den dominierenden Adel wurde unterlegt mit der Vorstellung, dass die für die bürgerliche Klasse eingeforderten demokratische Rechte und Freiheiten nur Männern zuteilwerden: liberté, egalité, fraternité. Olympe de Gouges setzte dieser patriarchalen Logik zeitgleich eine progressive feministische Identitätspolitik entgegen: Auch sie stritt für die Französische Revolution, wollte aber, dass Frauen nicht länger als Menschen zweiter Ordnung galten und landete dafür auf dem Schafott. Auch die Klassenkämpfe, die Arbeiter*innen vor dem Gesetz als gleichberechtigte Bürger*innen durchsetzte, sind Teil der Identitätspolitiken, die Demokratie hervorgebracht und weiterentwickelt haben. Ebenso der Kampf ums Wahlrecht für Frauen. Auch diese Liste ist viel länger.

In der historischen Rückschau ist festzustellen, dass ob von patriarchaler oder feministischer Seite, Bürgerlichkeit ebenso wie positive Klassenzugehörigkeit insgesamt mehrheitlich mit Weiß-Sein verknüpft worden ist. So richtete sich etwa die Französische Revolution nicht im Wesentlichen gegen den transatlantischen Versklavungshandel sowie gegen den Kolonialismus, mit dem knapp 70% der Welt besetzt und ausgebeutet wurden. Erst die Befreiungskämpfe in den ehemaligen Kolonien brachten die Forderung nach Bürger*innenrechten für alle Menschen überall ins westliche, bürgerliche Bewusstsein. Erst sie trugen diese Kämpfe international in die, etwa durch die UN, repräsentierte politische Landschaft ein. Gleichwohl leiden auch progressive Identitätspolitiken wie jede politische Bewegung an bewussten oder unbewussten Ausschließungen; sind also nie per se über Kritik erhaben. Genau deshalb ist die Frage so wichtig: Wer ist sitzt am Tisch der Entscheidung, wer wird repräsentiert und gehört – und wer fehlt? Bis heute kämpfen Gruppen, die als Minderheiten abgewertet werden, für die vollwertige Anerkennung und Umsetzung ihrer Gleichberechtigung. In Deutschland und global.

Was folgt daraus?

Dass es für eine redliche demokratische Diskussion unverzichtbar ist, erstens: zwischen hegemonialer und progressiver Identitätspolitik zu unterscheiden. Zweitens: Politische Forderungen müssen innerhalb dieses Spannungsfelds verortet werden.

In anderen Worten geht es geht darum, die individuelle Positioniertheit zu analysieren und zu berücksichtigen, dass sie wesentlich den jeweiligen Blick auf Welt prägt. Es braucht also ein Bewusstsein darüber, dass Identitätspolitik nicht erst mit dem Widerstand gegen festgefügte Hierarchien und den ihnen verbundenen Zuschreibungen beginnt. Im Gegenteil: Ob bei Kolonialismus, Nationalsozialismus oder Faschismus, jeweils handelt es sich um radikale Formen von Identitätspolitik, die Menschen entlang verschiedener rassistischer Zuschreibungen sowie der Kategorie „Weiß-Sein“ in lebenswert oder lebensunwert einteilte und das verschiedenerorts bis heute tut. Insgesamt ist jede Form der Bevorzugung von Menschen, die als „normal“ wahrgenommen werden, Ausdruck einer nicht notwendigerweise reaktionären, doch aber konservativen Identitätspolitik. Denn Normen spiegeln Machtverhältnisse. Beziehungsweise erzählen die Geschichte der Sieger*innen.

Im Unterschied zur reaktionären Identitätspolitik ist es für eine konservative Identitätspolitik typisch, dass diese sich gar nicht als solche wahrnimmt. Doch die Mehrheit der Menschen lassen sich nicht den dominanten Kategorien von Weiß-Sein, patriarchaler Männlichkeit, Heterosexualität und Nicht-Behinderung zuordnen. Gleichzeitig basiert die Dominanzkultur auf der Vormachtstellung just von diesen, sich verbündenden Kategorien: Der weiße, nicht/behinderte Mensch, der als männlich wahrgenommen wird und patriarchal agiert, gilt als Norm. Und das ist ein Problem, das progressive Identitätspolitiken angehen.

Das führt zu einem Drittens: Das Phänomen der Identitätspolitik viel älter ist als der Begriff. Dieser wurde erstmals von dem Schwarzen feministischen Kollektiv 1977 Combahee River Collective geprägt und ist bis heute ein zentraler Referenzpunkt für progressive Identitätspolitiken.

Exitstrategien

Einem demokratischen, an Menschenrechten orientierten „Wir“ muss entsprechend daran gelegen sein, Transparenz in das Dickicht von Identitätspolitiken zu bringen. Ihm muss es darum gehen, die Strategie des othering zu durchbrechen, damit niemand mehr zum*zur Anderen erklärt wird. Diskriminierungserfahrungen müssen ernst genommen und systematisch in den politischen Diskurs eingespeist werden. Dafür ist es grundlegend, Identitäten als grundsätzlich gesellschaftlich beeinflusste Haltungen zu verstehen, die sich gleichwohl ganz persönlich und privat anfühlen und das auch sind. Und es ist notwendig, sich immer wieder aufs Neue zu fragen: Wer sitzt mit am Tisch der Entscheidung - und wer fehlt?