Diplomatie und Politik sollten die im Syrienkrieg gemachten Fehler vermeiden. Vor allem müssen sie dafür sorgen, dass dieses Mal Waffenstillstände und humanitäre Maßnahmen auch tatsächlich greifen.
Ganz zu Recht haben die aktuellen Gräuel in der Ukraine die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand sowie nach humanitären Zugangswegen laut werden lassen. Beides ist äußerst wichtig, jedoch zeigt die Art und Weise, wie Russland in Syrien mit derartigen Maßnahmen umgegangen ist, dass, um dies in der Ukraine zu erreichen, sehr vorsichtig und bedacht verhandelt werden muss. Zwar unterscheiden sich die Konflikte in Syrien und der Ukraine in vielerlei Hinsicht, doch gibt es auch bestimmte Ähnlichkeiten, welche vermuten lassen, von Syrien könne man, was Putins militärische wie diplomatische Strategie betrifft, einiges lernen. Diplomatie und Politik sollten vor dem Hintergrund dessen, was in Syrien geschah, jene Fehler vermeiden, die dort gemacht wurden, und sie müssen dafür sorgen, dass dieses Mal Waffenstillstände und humanitäre Maßnahmen auch tatsächlich greifen.
Waffenstillstand in Syrien
Mit nachhaltigem Erfolg haben in Syrien die Waffen nur dann geschwiegen und konnten Kämpfe nur dann vermieden werden, wenn entsprechende Vereinbarungen zu Putins strategischen Zielen und zu seinem militärischen Kalkül passten. Eine Waffenruhe, welche Russland und die Türkei im Nordwesten Syrien vereinbarten, hält seit nunmehr zwei Jahren mehr oder weniger, und Waffenstillstandslinien sowie andere Schlichtungsmaßnahmen im Nordosten Syriens, auf welche sich Russland, die USA und die Türkei einigten, halten seit 2019. In beiden Fällen kam es punktuell zu Gewalt und Übergriffen, aber im Wesentlichen haben die deeskalierenden Maßnahmen in diesen beiden Fällen gegriffen.
Keinen oder kaum Erfolg hingegen hatten solche Abkommen, die, sei es ihrer geografischen, sei es ihrer strategischen Zusammenhänge wegen, Russlands sehr weitgehenden Zielen entgegenliefen, das heißt in all jenen Fällen, in denen Russland auf Eroberung oder auf Kapitulation aus war. Eben dies bereitet allen, die sich mit Syrien auskennen, angesichts der aktuellen Lage in der Ukraine Sorgen, fordert Putin doch eine „Demilitarisierung‟, beziehungsweise „Denazifizierung‟ des Landes – was gleichbedeutend zu sein scheint damit, das gesamte Lande zu besetzen die Regierung zu stürzen. Sollten diese zu Beginn des Konflikts geäußerten Ziele tatsächlich Russlands Absichten entsprechen, dann ist es wenig wahrscheinlich, dass sich Putin auf einen landesweiten Waffenstillstand einlassen wird, es sei denn, durch einen solchen Waffenstillstand könnte er seine Absichten umsetzen – oder aber, der Konflikt würde zu einer zu schweren Belastung für ihn, sei es in militärischer, sei es in innenpolitischer Hinsicht. Die ukrainische Regierung hingegen besteht darauf, Russland müsse sich vollständig aus allen Teilen der Ukraine zurückziehen, doch auch diese Position wird im Laufe der Zeit vermutlich in Frage gestellt werden. Aktuell bedeutet dies, alle Verhandlungen über eine Schlichtung des Konflikts, Waffenstillstände, lokale humanitäre Maßnahmen, Evakuierungen und Zugangswege finden vor dem Hintergrund zweier miteinander unvereinbarer Positionen statt. Angesichts dieser Lage kann man von dem, was in Syrien geschehen ist, einiges lernen.
Als Putin offiziell militärisch in den Syrienkrieg eingriff, gab es klare Frontverläufe zwischen dem nicht vom syrischen Staat kontrollierten Norden des Landes und dem Flickenteppich von Gebieten in der Mitte und im Süden des Landes, die von unterschiedlichen Akteuren kontrolliert wurden. Viele Gebiete, welche die Opposition im Süden und Zentralsyrien hielt, waren eingekesselt oder wurden belagert. In einigen Fällen kam es hierbei durch örtliche Waffenstillstände zu einer Deeskalation, und man versuchte so, Widersprüche und Konflikte zu managen, denn die syrischen Truppen waren zu schwach, um das Gleichgewicht der Kräfte entscheidend zu ihren Gunsten zu verschieben. Auf diesem Kriegsschauplatz entwickelte Putin jene Militärstrategie, auf die er auch zu Beginn seines Einmarsches in die Ukraine setzte. Im Folgenden soll es um einige wenige Aspekte gehen, die in Syrien zum Tragen kamen, und die für all jene, die in der Ukraine über Waffenstillstände, Waffenruhen und humanitäre Zugangswege verhandeln, von Bedeutung sein mögen. In Syrien hat Russland gezeigt, dass es Waffenstillstände und Abkommen über humanitären Zugang dazu nutzt, sich strategische Vorteile zu verschaffen, oder aber dass es Waffenstillstände vereinbart, an welche es sich dann nicht hält – etwas, das in der Ukraine bereits zu beobachten ist, und wodurch Verhandlungen äußerst schwierig sind.
Humanitäre Katastrophe
In Syrien wurde im Februar 2016 ein Waffenstillstand einstimmig vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vereinbart und, obgleich es zu kleineren Zwischenfällen kam, hielt er im Wesentlichen bis in den April des Jahres. Während dieser Zeit kam es jedoch zu einer humanitären Katastrophe, denn obgleich größere militärische Zusammenstöße ausblieben, setze man andere Waffen ein: Die belagerten Menschen wurden systematisch von der Versorgung mit Lebensmitteln und humanitärer Hilfe abgeschnitten. Dabei wurden die Verhandlungen über humanitäre Unterstützung für militärische Ziele benutzt, und in einem Fall wurden Lieferungen nur in eine Hälfte des belagerten Ost-Ghouta zugelassen, was zu Kämpfen zwischen den Führungsriegen in den beiden Teilen der Enklave führte und es Russland und seinen Verbündeten dann ermöglichte, Gebiete zu erobern.
Gleichzeitig erlaubte die weitgehende Waffenruhe es Russland, Syrien und ihren Verbündeten, einen abgestimmten Angriff vorzubereiten, zu dem es dann, nachdem der Waffenstillstand gebrochen wurde, auch kam. Hier nahm die Strategie ihren Anfang, eine Stadt, beziehungsweise ein Gebiet nach dem anderen zu erobern - durch verschärfte Belagerung, während gleichzeitig Wohngebiete, öffentliche und humanitäre Einrichtungen und Zivilisten immer stärker beschossen wurden – und das so lange, bis das jeweilige Gebiet kapitulierte. So wurde, begünstigt durch eine vorangegangene Waffenruhe, ab Juni 2016 Ost-Aleppo belagert, und diese Belagerung hielt zweieinhalb Jahre an. In jedem dieser Fälle wurden die Einwohner durch die Waffenruhe faktisch in Schach gehalten, mürbe gemacht und dann, sobald genügend Feuerkraft verfügbar war, eroberte man das Gebiet. In der Ukraine scheinen sich die russischen Truppen stellenweise festgefahren zu haben, kommen kaum voran und der Nachschub stockt. Wenn Russland hier seine Truppen neu formieren und versorgen will, dann könnte ihm ein örtlicher Waffenstillstand sehr zupass kommen. Wenn Waffenstillstände nicht mit einem Rückzug einhergehen und es gleichzeitig erlauben, Truppen umzugruppieren, können das das Vorspiel zu schärferen Angriffen und größerer Gewalt sein.
Ein weiteres Übereinkommen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Dezember 2016, das den humanitären Zugang sowie die Evakuierung von Zivilisten aus Ost-Aleppo regeln sollte, wurde gleichfalls missachtet – bis schließlich, beinahe in letzter Minute, ein Abkommen geschlossen wurde, das es erlaubte, Zivilisten aus der Stadt herauszuholen. Im Jahr 2018 wurde, als es zu einem weiteren brutalen militärischen Angriff auf das belagerte Gebiet kam, für Ost-Ghouta durch die Resolution 2401 des Sicherheitsrats ein dreißigtägiger Waffenstillstand vereinbart. Umgesetzt wurde dieser Waffenstillstand jedoch nie, und im April des Jahres kapitulierte das Gebiet, nachdem es zu einer Eskalation der Gewalt – darunter auch Angriffen mit Chemiewaffen – gekommen war. Im Jahr 2017 brachten die Astana-Gespräche mit dem Abkommen zwischen Russland, der Türkei und Iran zur Einrichtung sogenannter Deeskalationszonen einen weiteren Versuch hervor, die Gewalt einzuhegen. Zwar ging in der Folge für kurze Zeit die Gewalt in den vier als Deeskalationszonen benannten Gebieten zurück, in der Praxis gab dies Russland und dem syrischen Regime jedoch die Möglichkeit, den Widerstand in diesen Gebieten so zu handhaben, dass sie diese anschließend eines nach dem anderen einnehmen konnten. Von den vier Gebieten wird heute nur noch eines – der äußerste Nordwesten des Landes – nicht von Russland und Syrien beherrscht, und in diesem letzten Gebiet ist der Waffenstillstand für Russland zumindest derzeit von strategischer Bedeutung. In allen Gebieten Syriens, in denen Russlands Ziel der vollständige militärische wie politische Sieg war, führte allein die Kapitulation zu einem Ende der Gewalt. Dieses Beispiel lässt vermuten, dass Russland auch in der Ukraine überall dort, wo es eben dieselben Ziele anpeilt, einen ähnlichen Ansatz verfolgen wird.
Flucht und Evakuierung
Während schwerer Kämpfe verkündete Russland nach eigenem Gutdünken, wo und wann es Fluchtwege öffnen werde. Durch das einseitige Vorgehen aber waren diese Wege weitgehend wertlos, wo nicht gar widersinnig. Im Jahr 2018 öffnete Russland in Ghouta „humanitäre Korridore‟, durch welche die Zivilbevölkerung das Gebiet verlassen durfte. Dies geschah jedoch nicht im Rahmen einer Übereinkunft, weshalb internationale Organisationen hierbei weder halfen, noch die Abläufe überwachten. Entsprechend entschieden sich nur wenige Menschen, das Gebiet während der täglichen fünfstündigen Feuerpause auch tatsächlich zu verlassen – denn die meisten trauten dem Frieden nicht, auch, weil die Zivilist*innennur in von Russland beziehungsweise vom syrischen Regime kontrollierte Gebiete abziehen durfte.
In der Ukraine sollte beim Vormarsch russischer Truppen die Zivilbevölkerung auf Wegen evakuiert werden, auf die sich beide Seiten geeinigt haben. Dabei ist entscheidend, dass Fliehende in Gebiete abziehen können, die von der Ukraine kontrolliert werden, und nicht, wie zu Anfang geschehen, nur nach Russland oder zu seinem Verbündeten Belarus. Wo immer möglich, sollten internationale Beobachter und Organisationen sicherstellen, dass die Zivilbevölkerung geschützt ist, und das gilt auch für humanitäre Helferinnen und Helfer sowie für Hilfsleistungen.
In Syrien wurden die Übereinkommen, die Vertreter Russlands mit den Menschen in belagerten Gebieten geschlossen hatten, nach deren Einnahme oft nicht eingehalten. In manchen Fällen wurde die Russische Militärpolizei, die für Sicherheit sorgen sollte, vorzeitig abgezogen, was die Menschen großer Gefahr aussetzte. Viele Zusagen, die man im Gegenzug für eine Kapitulation machte, wurden später gebrochen, beispielsweise Fristen, innerhalb derer die Männer nicht zum Militärdienst eingezogen werden sollten, Sicherheitsgarantien für Personen, die als Dissidenten gesucht wurden, das Recht auf Freizügigkeit, die Freilassung von Gefangenen sowie die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und öffentlichen Dienstleistungen. Wenn Russland versucht, in der Ukraine Gemeinden und Städte auf militärischem Weg oder durch Verhandlungen unter seine Kontrolle zu bekommen, wird es nicht leicht sein, Abkommen zu schließen und die Kontrolle zu behalten – und das umso weniger, wenn Zugeständnisse, die während Verhandlungen gemacht wurden, in der Folge nicht eingehalten werden.
Aus Fehlern lernen
Trotz dieser Lehren sollte versucht werden, wo immer es möglich ist, Wege für humanitäre Hilfe, humanitären Zugang sowie Waffenstillstände auszuhandeln. Der rohen Gewalt des militärischen Angriffs auf die betroffenen Gebiete und Städte muss Einhalt geboten werden. Diejenigen, die die politischen Entscheidungen fällen, und die sie aushandeln, müssen sich jedoch im Klaren darüber sein, dass Russland so verhandeln und Abkommen so umsetzen wird, wie es ihm zupass kommt. Gerade bei Fluchtwegen und humanitären Zugängen sollten die Unterhändler darauf achten, dass sie nicht in die selben Fallen tappen, wie in Syrien und somit vergleichbare Gräuel verhindern.
Dieser Beitrag stellt die Sicht der Autorin dar und entspricht nicht unbedingt der Position des European Leadership Network (ELN) oder der seiner Mitglieder im Ganzen. Das ELN will Diskussionen fördern, die dazu beitragen, dass Europa die außen-, verteidigungs- und sicherheitspolitischen Herausforderungen der Gegenwart besser bewältigt.
Der englische Originalbeitrag ist hier erschienen: https://battle-updates.com/approach-with-caution-lessons-for-ukraine-from-the-russian-approach-to-ceasefires-and-humanitarian-access-in-syria-by-emma-beals-senior-advisor-at-the-european-institut/
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin und ELN.
Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.