Die größte Flüchtlingsbewegung seit dem zweiten Weltkrieg braucht jetzt Koordination in ganz Europa.
Es ist die größte Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und es könnte schon bald die größte weltweit sein. Seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 sind mehr als drei Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. In der großen Überzahl sind es Frauen und Kinder, da Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen, sowie Drittstaatsangehörige.
Die meisten haben sich ins Nachbarland Polen geflüchtet: Weit über 1,5 Millionen Menschen. Täglich werden es mehr. Auch in Ungarn, in der Slowakei und in der Republik Moldau und Rumänien werden die Flüchtlinge in riesiger Zahl aufgenommen und von vielfach ehrenamtlichen Helfern versorgt.
Es wird ein Kraftakt nicht nur für die Staaten der Nachbarregion der Ukraine, sondern für ganz Europa. Allem Anschein nach, gibt es die Bereitschaft zu helfen und die Fähigkeit der EU, flexibel und unbürokratisch zu handeln. Im nächsten Schritt bedarf es der Koordination, Bedarfe und Aufnahmebereitschaft zusammenzufügen und die Logistik, um das wirksam umzusetzen.
Deutschland erlebt derweil eine erneute Willkommenskultur. Mehr als 120.000 Menschen aus der Ukraine sind in den ersten zwei Kriegswochen bereits nach Deutschland gelangt. Schwer zu sagen wie viele es wirklich sind, denn Grenzkontrollen finden nicht systematisch statt. Unklar ist, ob alle, die Visa-frei eingereist sind, bleiben. Manche sind bereits in ein anderes europäisches Land weitergereist – dorthin wo Verwandte und Freunde sie unterbringen können. Viele zieht es nach Italien und Spanien.
Denn anders als 2015/16 wird die Aufnahmebereitschaft von Bürger*innen, Städten und Kommunen begünstigt durch ein schnelles Handeln der Europäischen Union: Durch die am 3. März in Brüssel beschlossene sogenannte „Massenzustrom- Richtlinie“ (EU Richtlinie 2001/55/EG) müssen ukrainische Flüchtlinge in europäischen Staaten kein Asylverfahren durchlaufen, sondern bekommen einen vorrübergehenden Aufenthaltsstatus der ihnen Zugang zu Sozialleistungen und Erwerbstätigkeit gewährt. Dieser Status gilt zunächst für ein Jahr und kann sich bis auf drei Jahre verlängern.
Staatsangehörige anderer Nationen, die in der Ukraine studierten oder arbeiteten und das Land im Krieg verlassen mussten, können in der Europäischen Union nach der „Massenzustrom-Richtlinie“ voraussichtlich nur dann einen Aufenthaltsstatus erhalten, wenn sie internationalen Schutz genießen oder sich mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine aufgehalten haben und nicht sicher in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Mehr als 150.000 der 293.600 Drittstaatsangehörigen, die nach Angaben der UN-Organisation für Migration (IOM) in der Ukraine gelebt haben, verfügten aber nur über einen befristeten Aufenthalt. Vor allem Studierende aus Indien, Marokko, Turkmenistan und Aserbaidschan sowie aus Nigeria sehen sich in einer Notlage, zumal ihnen die Flucht über die Grenze in vielen Fällen erschwert wurde und ihr Schicksal dort, wo sie angekommen sind, ungewiss ist.
Doch insgesamt gilt: Das unwidersprochen unbürokratische Vorgehen gegenüber dem plötzlichen Zustrom von Menschen, die sich aus einem brutalen Krieg retten, ist als richtige Entscheidung zu sehen. Menschen, die aus dem Krieg flüchten, können auf offene Grenzen zugehen und müssen sich nicht Menschenhändlern auf immer waghalsigeren Fluchtrouten anvertrauen, die ihnen viel Geld dafür abknöpfen, irgendwo anzukommen. Die Asylsysteme werden nicht überlastet und den Menschen wird schnell geholfen. Der Entschluss in Brüssel politisiert zwar das Flüchtlingsrecht wie Kritiker richtig feststellen, aber er lässt Solidarität und europäische Einigkeit anklingen, wie man sie sich lange vergeblich gewünscht hat. Die Verteilungsfrage jedoch bleibt zunächst offen, da sich geflüchtete Ukrainer*innen ja dahin bewegen (dürfen), wo sie Aufenthalt finden. Bislang sind ausgerechnet die Staaten Hauptaufnahmeländer, die sich einer gerechteren Verteilung von Geflüchteten in Europa in den vergangenen Jahren vehement widersetzt hatten. Polen gar hatte noch Ende 2021 die unliebsamen, weil vom belarussischen Präsidenten Lukaschenko instrumentalisierten Geflüchteten aus Syrien, dem Irak und anderswo an der Grenze gewaltsam zurückgedrängt (und bleibt bei dieser Haltung). Die anhaltende Unterstützung der Zivilgesellschaften und Staaten an den östlichen Außengrenzen gegenüber Ukrainer*innen hingegen ist beachtlich und verdient Unterstützung.
Weit über Hunderttausend Menschen ziehen weiter gen Westen. Berlin hilft und kommt immer wieder ans Limit der Unterbringung von täglich 10.000 Menschen, die mit Zügen am Hauptbahnhof eintreffen. Mit neuerlich eingesetzten Sonderzüge kommen noch mehr und auch hier schon fehlt es zunächst an Koordinierung wie auch zunächst ganz praktisch an Fahrer*innen für Busse für die Umverteilung in andere Bundesländer. Dass die ungleiche Behandlung von Geflüchteten rasch Unmut und Konfliktpotential in Erstaufnahmeeinrichtungen schaffen würde, dessen waren sich die Behörden bewusst. Mancherorts wurden Geflüchtete im Asylverfahren oder mit Kettenduldung verlegt, um für die aus der Ukraine Geflüchteten Platz zu schaffen.
Bundesweit sind daneben bereits 300.000 Privatunterkünfte angezeigt worden, können aber ebenfalls nicht so rasch „gematcht“ werden. Wer schließlich in einer der privaten Unterkünfte ankommt, kann erstmal ausruhen: 90 Tage können Ukrainerinnen Visa-frei in Deutschland verweilen. Doch der Austausch mit anderen, die die eigene Sprache sprechen und auch Angebote wie Impfung (nur ein Drittel der Bevölkerung war bis Kriegsbeginn geimpft) und Trauma-Bewältigung sind wichtig. Kinder sollten wieder zur Schule gehen und mit anderen Kindern spielen können. Derartige Leistungen erhält, wer sich registrieren lässt.
Der deutsche Städte- und Gemeindebund dringt auf schnelle Hilfen, was die Finanzierung der Versorgung von Flüchtlingen durch den Bund und die Länder bedeutet. Der altbekannte Königsteiner Schlüssel der Verteilung ist in Kraft, ob er ebenfalls die Finanzlasten regelt, ist nicht klar. Eine Beschulung der Kinder wird besondere Leistungen erfordern. Beim gegenwärtigen Mangel an Lehrkräften in einigen Bundesländern, eine gewaltige Herausforderung.
Überhaupt werden sich die Menschen in Deutschland und auch anderswo der Herausforderungen erst allmählich gewahr. Je länger der furchtbare Krieg nur einige Flugstunden entfernt, andauert und mehr Menschen dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen, desto offensiver werden die Kräfte, die den Humanismus dieser Willkommenskultur untergraben, populistisch und in herkömmlicher „das Boot ist voll“-Mentalität. Auch darauf gilt es sich nun vorzubereiten.
Wie viele Menschen sich aus dem weiteren Kriegsverlauf durch Flucht retten werden, ist jetzt noch nicht vorauszusehen. 4 Millionen schätzen die Flüchtlingshilfsorganisationen, andere gehen von bis zu 10 Millionen Menschen aus. Vom weiteren Kriegsverlauf hängt ebenfalls ab, ob die Frauen und Kinder zurückkehren werden zu ihren Männern und Söhnen, in ihre Städte und Wohnungen.
Die EU hat gezeigt, dass schnelle Hilfe möglich ist. Jetzt geht es darum langen Atem zu zeigen. Das geht vor allem, wenn jetzt mehr Koordination geschaffen wird in und zwischen den Staaten Europas. Geflüchtete, die nicht auf Verwandte und Helfer zugehen können, sollten nicht länger in Zügen durch Europa irren. Polen und die anderen Staaten der Region brauchen rasche Zusagen, dass Transporte (unter Umständen auch Flüge) organisiert werden und Menschen dann auch in Portugal, den Niederlanden, Belgien oder Frankreich vorrübergehenden Schutz erhalten und integriert werden. Die Städte und Kommunen in allen europäischen Staaten zeigen Aufnahmebereitschaft. Die kommende EU Ratssitzung könnte jetzt beschließen, diese zu erfassen und zielstrebig Transportmöglichkeiten an die verschiedenen Orte zu organisieren. Es wird ein Kraftakt, aber realistisch und flexibel gesteuert kann Europa diese Herausforderung bewältigen.