Die politische Führung eines neuen Russlands kann nicht aus der heutigen Elite rekrutiert werden. Die im Exil lebende Opposition sollte bereit sein.
Der Krieg in der Ukraine zieht sich hin. Die mangelnde Bereitschaft des Putin-Regimes, außen- oder innenpolitische Zugeständnisse zu machen, wird von Tag zu Tag deutlicher. Damit wird klar, dass russische politische Aktivist*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und einfach russische Bürger*innen, die Putins Befehlen nicht Folge leisten, in naher Zukunft wohl kaum in ihre Heimat zurückkehren werden.
Mit anderen Worten: Sie werden sich zumindest für die nächsten Jahre, im schlimmsten Fall für viele Jahre, in Europa ansiedeln. Der Kreml vertreibt nicht nur mit allen in seiner Macht stehenden Instrumenten diejenigen aus dem Land, die sich dem Regime widersetzen. Vielmehr warnt er jene, die bereits gegangen sind, davor, überhaupt an eine Rückkehr zu denken. Die in den letzten Monaten verabschiedeten Gesetze kriminalisieren faktisch jede aktive Tätigkeit ihrer Bürger*innen im Ausland.
So sind beispielsweise die bei der Auswanderung unvermeidlichen Kontakte zu lokalen und internationalen Organisationen, von denen viele bereits verboten sind, nun offiziell ein Grund für die strafrechtliche Verfolgung in Russland. Weithin verbreitet ist heute die Praxis, Urteile auch in Abwesenheit von Angeklagten auszusprechen, die die sofortige Verhaftung bedeuten würden, sobald Rückkehrer*innen aus der Emigration die russische Grenze überschreiten.
Selbst im Falle des Todes von Putin oder eines personellen Wechsels im Kreml wäre die Änderung einer Vielzahl von Gesetzen und die bedingungslose Amnestie aller bereits Verurteilten nötig, wenn Emigrant*innen massenhaft zurückzukehren wünschten. Die weitreichende Rücknahme restriktiver Gesetze würde im Übrigen als der beste Indikator dafür herhalten, wie sehr sich eine hypothetische neue russische Führung von der derzeitigen unterscheidet.
Langer Weg zur Demokratie
Selbst ein Ende des Krieges in der Ukraine und Absichtserklärungen, die Außenpolitik zu ändern, werden keineswegs eine neue Ära für Russland und damit für Europa einläuten. Schließlich kann das Kremlregime auch eine aggressive Außenpolitik vorübergehend aufgeben – zum Beispiel, weil die militärischen und finanziellen Ressourcen erschöpft sind.
Dies bedeutet jedoch nicht automatisch eine Demokratisierung Russlands, die das Land langfristig zu einem guten Nachbarn und Verbündeten Europas macht. Um eine historische Analogie zu verwenden: Nikita Chruschtschow war sicherlich menschlicher als Josef Stalin, aber sein Aufstieg hat die UdSSR nicht zu einem demokratischen Land gemacht oder die Menschen, die vor den Schrecken des Bolschewismus geflohen waren, dazu gebracht, in Scharen nach Hause zurückzukehren.
Es gab zwar weniger Schrecken, aber der Bolschewismus blieb, wie die Beispiele Ungarn 1956 und der Aufstand von Arbeiter*innen im russischen Nowotscherkassk 1961 zeigten. Öffentlich Protestierende wurden im sowjetischen Einflussbereich weiterhin erschossen. Das moderne Europa hat viele eigene Probleme, besonders jetzt. Und natürlich verblassen die Probleme Russlands und der russischen Emigration gegenüber den Schrecken des Krieges in der Ukraine und seinen weitreichenden Folgen auf den Energie- und Nahrungsmittelmärkten.
Trotzdem müssen wir auch über die Gegenwart und Zukunft der russischen Emigration nachdenken – im Interesse einer besseren und friedlicheren Zukunft für den Kontinent. Daher sollte, alleine um der Zukunft Europas willen, das Thema nicht ignoriert und die Exilant*innen mit ihren zahlreichen Problemen, mit denen sie täglich konfrontiert sind, alleingelassen werden.
Verarmt und verzweifelt
Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts zeigt, dass russische und sowjetische Emigrant*innen, die in Armut und Verzweiflung gerieten, entweder mit den sowjetischen Sicherheitsdiensten kooperierten oder es aufgaben, weiterhin politisch aktiv zu sein. Aber selbst diese Geschichten sind nur die Spitze des Eisbergs, denn die meisten menschlichen Tragödien blieben der Welt verborgen.
Unerwünscht, weil sie den Sinn des Lebens verloren hatten und keine Zukunft für sich sahen, tranken begabte und gute Menschen Alkohol, entwürdigten sich oder begingen Selbstmord, ohne ihrem Heimatland oder den Ländern, in denen sie lebten, einen Nutzen zu bringen. All dies könnte sich nun wiederholen, denn abgesehen von den Selbsthilfeorganisationen, -projekten und -medien, die praktisch täglich neu aus dem Boden schießen, haben die Russ*innen, die vor Putin geflohen sind, keine Anlaufstelle.
Und es ist unwahrscheinlich, dass selbst diese Gruppen lange überleben werden: Die meisten von ihnen verfügen über keine langfristigen Finanzierungsquellen und haben einzig das Ziel, im Moment zu überleben und auf den Zusammenbruch von Putins Regime zu warten. Die Zeit vergeht im 21. Jahrhundert viel schneller als im 20., und es ist unwahrscheinlich, dass Putins Regime viele Jahrzehnte überleben wird.
Aber selbst wenn es in der ein oder anderen Form die nächsten 5 bis 10 Jahre übersteht, ist das mehr als genug Zeit, dass sich für die heutige russische Diaspora das Schicksal der postrevolutionären Emigration des letzten Jahrhunderts im Schnelldurchlauf wiederholt. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gründeten die vor der sowjetischen Regierung geflohenen Menschen auch viele Medien und unterschiedliche Organisationen, von denen allerdings die allermeisten zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der UdSSR schon nicht mehr existierten.
Auf Systemwechsel nicht vorbereitet
Die, die ihn erlebten, hatten dennoch keinen Einfluss auf die Prozesse in Russland. Zum Ende der Sowjetunion waren weder die seinerzeit ausgewanderten Russen und Russinnen noch die westlichen Länder, die sich der sowjetischen Diktatur widersetzten, auf einen Systemwechsel vorbereitet. Eine alternative Rechtsprechung war ebenso wenig verfügbar wie Spezialist*innen in den Geistes- und Sozialwissenschaften oder der modernen Pädagogik.
Es fehlte an russischsprachigen Personen, die über Erfahrungen in unabhängigen Medien oder in nichtsowjetischen politischen, sozialen und karitativen Organisationen verfügten. Selbst wenn es solche Menschen gegeben haben sollte, waren sie einsam und auf sich allein gestellt; in Russland wartete niemand auf sie, und der den Kalten Krieg gewinnende Westen bestand nicht darauf, selbst bekannte Kämpfer gegen die Sowjetherrschaft in die politische Elite Russlands zu integrieren.
Stattdessen erkannten die demokratischen Regierungen Europas und Amerikas nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einfach einen Teil der sowjetischen Elite voraussetzungslos als gleichberechtigten Teil der freien Welt an. Die Diktatur Putins beruht unter anderem auf der damals doch überraschenden Bereitschaft des Westens, Boris Jelzin und seine Mannschaft unhinterfragt als echte Alternative zur kommunistischen Partei anzuerkennen; als eine politische und legitime Alternative, die in der Lage ist, auf den Ruinen der UdSSR ein neues freies und demokratisches Land aufzubauen.
Doch die Nachkommen des Sowjetapparats waren durch die gesamte Erfahrung des politischen und wirtschaftlichen Lebens in der UdSSR korrumpiert und hielten dies auch in der neuen Umgebung für durchaus akzeptabel. Aus diesem Grund gab es keine Verurteilung der Verbrechen des Sowjetregimes, keine Wiedergutmachung. Menschen, die als ideologische Kämpfer gegen das Sowjetregime bekannt waren, wurden in das politische Leben des postsowjetischen Russlands kaum einbezogen.
Zentrale Positionen nur für Oppositionelle
Zugegeben: Der berühmte Dissident Alexander Solschenizyn kehrte triumphierend nach Russland zurück. Aber er verwandelte sich in ein Museumsexponat, mit dem der Kreml seine eigene Erneuerung dem Westen demonstrierte. Sowohl Jelzin als auch Putin haben zunächst höflich die Kritik am sowjetischen Regime akzeptiert. Jeder Versuch des Nobelpreisträgers, die amtierenden Behörden und Regierungen zu kritisieren, wurde indes mit offensichtlicher Irritation aufgenommen und bestenfalls ignoriert.
Schlimmer noch: Solschenizyns rechtskonservative politische Ansichten spielten den sowjetischen Revanchisten in die Hände, die bereits Kräfte für einen Gegenangriff sammelten. Zwar wurden einige ehemalige Dissidenten kurzzeitig Abgeordnete auf verschiedenen Ebenen und arbeiteten im Bereich des Menschenrechtsschutzes. Doch niemand durfte sich den Hebeln der Macht nähern.
Ist es da ein Wunder, dass Jelzin nur acht Jahre nach dem Zusammenbruch der KPdSU die Macht an einen KGB-Mann, Putin, übergab? Aus all dem ergeben sich mindestens zwei wichtige Schlussfolgerungen. Erstens sollte keine neue Post-Putin-Regierung in Russland ernst genommen werden, wenn sie nur aus der zweiten oder dritten Reihe von Putins Beamt*innen besteht und keinen einzigen nicht inhaftierten oder im Exil lebenden Kritiker Putins einbezieht.
Egal, was diese Leute sagen oder welche Entscheidungen sie treffen, am Ende werden sie selbst die Reformen verhindern, die am dringendsten notwendig sind. Nur diejenigen, die konsequent und bedingungslos dagegen angekämpft haben, können das fehlerhafte System durchbrechen und es mitsamt seinem Fundament gnadenlos zerstören. Es gibt keinen Grund, maximalistisch zu sein; ohne erfahrene Manager*innen, Bürokrat*innen und sogar Polizist*innen kann kaum ein Regime auskommen.
Doch die Erfahrung des gescheiterten postsowjetischen Übergangs in Russland lehrt nur eines: Die höchsten Positionen in Politik, Justiz und Verwaltung eines Landes, das einen echten Wandel braucht, sollten auf keinen Fall mit Personen besetzt werden, die aus der alten Elite stammen und die dunkelsten Zeiten in ihren Ämtern stillschweigend ausgesessen haben. Wo also sollen die neuen Leute herkommen?
Im Gefängnis sitzen nicht viele, und die politischen Aktivist*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und einfach Bürger*innen, die sich über die Diktatur empören und das Land verlassen haben, verfügen nicht über die nötige Erfahrung und sind auch sonst nirgends zu finden.
Deshalb die zweite Schlussfolgerung: Wenn Europa und der Westen im weitesten Sinne kein Personal für das Post-Putin-Russland ausbilden und auf Beteiligung an der neuen russischen Regierung nach dem Machtwechsel im Kreml bestehen, wird kein „neues Russland“ mehr funktionieren und alles wird nach ein paar Jahren wieder in die alten Bahnen zurückkehren.
Dieser Text ist Teil des Projekts der Heinrich-Böll-Stiftung „Eine andere Stimme Russlands“