Deutschland und die (Auslands-)Wahlen der Türkei: Ein Rückblick

Hintergrund

Die Republik Türkei steuert im hundertsten Jahr ihres Bestehens einer Schicksalswahl entgegen. Doch was bedeutet dieser Prozess für die Bundesrepublik und welche Lehren können wir aus der Debattenführung um die vorangegangenen Auslandswahlen ziehen?

Im hundertsten Jahr ihres Bestehens steuert die Republik Türkei einer Schicksalswahl entgegen. Nach nunmehr 21 Jahren unter Regierungsverantwortung der AKP  entscheidet sich mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai 2023, ob der bisherige Kurs des Staatspräsidenten Erdoğan fortgesetzt oder ein neuer politischer Pfad eingeschlagen wird.

Was bereits jetzt außer Frage steht, ist, dass der Wahlausgang – unabhängig vom Ergebnis – die politischen Verhältnisse in der Türkei und darüber hinaus nachhaltig prägen wird. Dies spürt man derweil auch in Deutschland: Nicht nur, da Ankara ein wichtiger außenpolitischer Partner Berlins ist, sondern weil die Bundesrepublik den größten Auslandswahlkreis der Türkei darstellt. Nach aktuellen Angaben sind 1,5 der insgesamt 3,5 Millionen in Deutschland ansässigen türkeistämmigen Personen bei den bevorstehenden Wahlen stimmberechtigt.  

Aus deutscher Perspektive zeichnen sich die Türkei-Wahlen damit neben ihrer außenpolitischen Dimension durch eine wichtige innenpolitische Komponente aus. In Anbetracht dessen erscheint es umso wichtiger, sich mit den Lehren aus den vorangegangenen Debattenverläufen um die türkischen (Auslands-)Wahlen auseinanderzusetzen. Der folgende Rückblick dient insofern der Diskussion möglicher politischer Konsequenzen der bevorstehenden türkischen Wahlen für die Bundesrepublik.

Vom Sieg der Demokratie zum Tod der Republik

Als am 12. September 2010 der Reformweg für die bis dahin in der Türkei gültigen Junta-Verfassung von 1980 via Volksentscheid angenommen wird, spricht man in der deutschen Medienberichterstattung von einem "Etappensieg für die türkische Demokratie"[1]. Aus Sicht der AKP sind es damit gleich zwei Erfolge: Innenpolitisch, weil es ihr gelingt, auch Wähler außerhalb des eigenen Lagers – allem voran aus linken und pro-kurdischen Kreisen – für sich zu gewinnen. Außenpolitisch, da sich die islamisch-konservative Partei um den damaligen Premier Erdoğan auch gegenüber dem Ausland als ernst zu nehmender demokratischer Akteur profilieren kann.

So werden damalige Versprechungen, wie z.B. die Einschränkung von Machtbefugnissen des Militärs und die Stärkung bürgerlicher Freiheiten auch in Europa als wichtige Schritte hin zur Überwindung struktureller Schwächen der türkischen Demokratie angesehen. Trotz kritischer Stimmen der Opposition in der Türkei, die im progressiven Gebaren der AKP machtpolitisches Kalkül sehen, dominiert in weiten Teilen der deutschen Politik eine durchaus positive Grundhaltung. So spricht unter anderem am 19. Oktober 2010 Bundespräsident Christian Wulff als erstes deutsches Staatsoberhaupt vor der türkischen Nationalversammlung und ermutigt dabei die Anwesenden auf dem Weg der jüngsten Verfassungsänderungen "fortzuschreiten"[2]. Als knapp sieben Jahre später erneut die Wahlurnen für ein Volksentscheid aufgestellt werden, verkehrt sich jedoch der einstige Siegeszug der Demokratie nun in den „Tod der türkischen Republik“[3].

Von der Türkeidebatte zum Integrationsdiskurs

Spätestens mit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 bröckelt nicht nur das demokratische Image der AKP, auch die bilateralen Beziehungen zur Bundesrepublik beginnen zu erodieren. Angefangen bei der Armenien-Resolution des Bundestages über die Festnahmen deutscher Staatsbürger*innen in der Türkei, erleben die deutsch-türkischen Beziehungen mit den Nazi-Vergleichen Erdoğans im Jahr 2017 einen historischen Tiefpunkt. Parallel zur Abwärtsspirale des zwischen-staatlichen Verhältnisses intensivieren sich in dieser Phase auch innenpolitische Diskussionen um die Gruppe türkeistämmiger Menschen in Deutschland. Neben bereits bekannten Themen, wie dem Import sozialer Konflikte, geht es in diesem Zusammenhang auch immer öfter um Fragen einer möglichen Außenlenkung der türkeistämmigen Community durch die türkische Regierung.

Dieser diskursive Wandel wird nicht zuletzt durch die Ergebnisse der türkischen Auslandswahlen ab 2015 forciert. Unter der Wählerschaft in Deutschland zeichnen sich dabei von Anfang an deutliche Mehrheiten für die AKP und Staatspräsident Erdoğan ab. Als in der Hochphase der bilateralen diplomatischen Spannungen 63,07% der Wähler*innen in Deutschland beim Verfassungsreferendum von 2017 für die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei votieren, kommt es zu einem endgültigen Bruch in der öffentlichen Debattenführung. Anschließend wird nicht nur der Aufstieg einer „fünften Kolonne Erdoğans"[4] beschworen, es kommt auch zu einer generellen Infragestellung der „Demokratie- und Integrationsfähigkeit“ türkeistämmiger Menschen[5]. Dass die bisherigen Wahlergebnisse in Deutschland stets unter einer 50-prozentigen Wahlbeteiligung zustande gekommen sind, scheint in diesem Zusammenhang jedoch ebenso vergessen wie die einstige Stilisierung der AKP zum "demokratischen Hoffnungsträger".

Die Schieflage des deutschen Türkei-Diskurses

Obwohl die deutsch-türkischen Beziehungen momentan als stabil erscheinen, können wir davon ausgehend, dass die bevorstehenden (Auslands-)Wahlen der Türkei in der Bundesrepublik einmal mehr öffentliche Kontroversen um grenzüberschreitende politische Entwicklungen und türkeistämmige Menschen in Deutschland mit sich bringen werden. Dabei lehren uns die Erfahrungen der vergangenen Jahre, dass der Verlauf dieser öffentlichen Diskussionen maßgeblich durch eurozentristische Deutungsmuster und eine pauschalisierende Wahrnehmung migrantischer Gruppen geprägt ist. 

So zeugt der radikale Bruch in der außenpolitischen Rezeption der AKP, von einer demokratischen Triebkraft hin zum Sinnbild des autokratischen Akteurs, innerhalb der deutschen Diskurslandschaft entweder von einer großen Naivität oder einer eklatanten Unkenntnis gegenüber politischen Dynamiken in der Türkei. Auf der Ebene der Innenpolitik, zeigt sich hingegen, dass der nunmehr über 60-Jährigen Geschichte türkeistämmigen Lebens in Deutschlands zu trotz, die Zuschreibung pauschaler (politischer) Herkunftsorientierungen, immer noch einen festen Bestandteil des öffentlichen Umgangs mit türkeistämmigen Menschen darstellt.

Der deutsche Türkei-Diskurs zeichnet sich dadurch, insbesondere im Kontext der (Ausland-)Wahlen, durch eine offensichtliche Schieflage aus. So sind eine Vielzahl der Debatten dieses Themenfeldes durch Mechanismen der „Fremd“-Konstruktion türkeistämmiger Menschen geprägt. Migrantische Selbstwahrnehmung spielt in diesem Zusammenhang nahezu gar keine Rolle. Dabei dürften es gerade Stimmen aus der türkeistämmigen Community sein, die sich bis heute bewusst gegen eine Stimmabgabe für die AKP entschieden haben, die aufzeigen könnten, wie divers und heterogen diese „Gruppe“ hinsichtlich ihrer politischen Orientierungen ist.

Während sich der Wahlkampf in der Türkei inmitten der aktuellen Wirtschaftskrise und den Nachwehen der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Osten des Landes in vollem Gange befindet, ist es gegenwärtig schwer abzuschätzen, wie sich die Wähler*innen am 14. Mai entscheiden werden. In einigen Teilen der deutschen Medienberichterstattung können wir jedoch bereits jetzt beobachten, dass Praktiken der homogenisierenden Fremdkonstruktion türkeistämmiger Menschen wieder aufgenommen wurden.

 

[1] Günter Seufert in Zeit-Online vom 06.02.2010: „Etappensieg für die türkische Demokratie“ (Eingesehen am 15.03.2023). 

[3] Lenz Jacobsen in Zeit-Online vom 17.04.2017: „Der Tod der türkischen Republik“ (Eingesehen am 15.03.2023). 

[4] Bassam Tibi in der Baseler Zeitung vom 29.03.2017: „Erdogans fünfte Kolonne“.

[5] Philip Kuhn im Interview mit Ruud Koopmans in Welt.de vom 16.03.2017: „Mit diesem Appeasement müssen wir aufhören“ (Eingesehen am 15.03.2023).


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de