Am 14. Juni 2022 ist es 50 Jahre her, dass die indische Regierungschefin Indira Gandhi in ihrer fulminanten Rede in Stockholm sagte, dass Armut und Not die größten Umweltverschmutzer seien. Menschen mit unbefriedigten Grundbedürfnissen, darum ging es Gandhi, können nicht haftbar gemacht werden für Umweltbelastungen, die aus dem Wohlstandsmodell der führenden Industrienationen entstanden sind. Sie stellte in Aussicht, dass es möglich ist, Armut und Not zu überwinden, ohne die Natur dauerhaft zu beschädigen.
Und sie benannte drei Voraussetzungen dafür: Erstens dürften Industrienationen ihre Handelspolitik nicht nutzen, um wirtschaftlich schwächeren Ländern Vorgaben für den Umweltschutz zu machen. Denn damit würden sie die koloniale Ausbeutung, auf der ihr Reichtum auch gründet, nur fortsetzen. Zweitens sollte in globale Kooperation investiert werden, um alle Mensch-Umwelt-Krisen zusammenhängend anzugehen. Und drittens gehe es nicht an, das hohe Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt als Hauptursache für die Belastungen der Umwelt zu benennen. Schließlich sei es der enorme Ressourcenhunger weniger reicher Länder, der die Umwelt zerstöre, und die Dritte Welt habe nicht den notwendigen Zugang zu Wissen und Technologie, um ihre eigene Entwicklung umweltverträglich zu gestalten.
Damit stellte sie die Grundfragen, mit denen sich Politik und Wissenschaft seither befassen. Einzig die Frage nach dem Wirtschaftswachstum stellte sie nicht explizit. Das nahm dann der Brundtland-Bericht zu nachhaltiger Entwicklung 1987 ins Visier und stellte fest, dass Wirtschaftswachstum auf jeden Fall zu nachhaltiger Entwicklung gehöre. Es sei aber notwendig, dieses Wachstum so zu gestalten, dass es die Grundbedürfnisse aller Menschen nach Einkommen, Ernährung, Energie und Wasser erfülle und die Ressourcenbasis erhalte und stärke. Umwelt- und wirtschaftspolitische Entscheidungen müssten dafür zusammengeführt und die internationalen Wirtschaftsbeziehungen ebenso wie Technologien und Risikomanagement umorientiert werden.
Wäre das gelungen, sähe unsere Welt heute anders aus. Der Klimawandel wäre aufgehalten worden, Böden wären weder vergiftet noch ausgelaugt, die Gewässer nicht verschmutzt und ausgetrocknet, Insekten würden leben, die Ozeane nicht von Plastikmüll durchseucht, die Städte wären menschenfreundlich und die gegenwärtige extreme Ungleichheit von Einkommen und Reichtum gar nicht erst entstanden. Was muss geschehen, um die Überwindung von Armut und Not doch noch mit dem Schutz von Umwelt und Natur übereinzubringen?
Drei, notwendigerweise unvollständige, Antworten:
Es ist tatsächlich nicht die schiere Zahl der Weltbevölkerung, die uns an den ökologischen Abgrund treibt, sondern die ungleiche Verteilung von Produktions- und Konsummacht und von politischer Macht.
Die Erforschung der Kämpfe um den Zugang zu Land, Wäldern und Wasser hat gezeigt, dass gerade Menschen, die auf und von dem Land leben, ein starkes Eigeninteresse daran haben, diese Ressourcen sorgfältig zu nutzen und zu schützen. Gehindert werden sie daran durch den machtvollen Zugriff einheimischer und internationaler Konzerne auf Rohstoffvorkommen, Land und Wasser und durch den Ausbau von Straßen und Staudämmen. Es sind aber nicht immer nur die Konzerne. Illegale Landnahme und Bergbau wirken auch dann zerstörerisch, wenn Menschen auf der Suche nach Einkommen in wenig besiedelte Regionen wie das Amazonasgebiet vordringen. Viel wäre also erreicht, wenn die Missachtung von Gesetzen zum Schutz der Umwelt bestraft und die Zugangs- und Nutzungsrechte von Menschen geschützt würden. Wenn Gleichheit vor dem Gesetz bestünde und es weder Straflosigkeit noch Korruption gäbe.
Auch Deutschland und die EU müssen Verantwortung für die sozialen und ökologischen Folgen der Rohstofferschließung übernehmen
Rohstoffe werden jedoch in aller Regel für den Weltmarkt ausgebeutet. Die Verantwortung, dies sozial und ökologisch gerecht zu organisieren, liegt damit auch bei den Unternehmen und Banken, die sie erschließen und kaufen, und den Gesellschaften, die sie nutzen. Das bedeutet, dass auch in Deutschland, in der EU tatsächliche Verantwortung für die sozialen und ökologischen Folgen der Rohstoff-erschließung übernommen werden muss. Das Machtgefälle zwischen reichen und armen Gesellschaften bedeutet aber bisher, dass ärmere Staaten kaum Mittel und Chancen haben, um durchzusetzen, dass dies auch geschieht. Noch stärker schlägt dieses Machtgefälle bei den globalen Auswirkungen des Klimawandels durch: Die EU könnte Strafabgaben für Güter aus Ländern beschließen, die mit sehr hohen CO₂-Emissionen hergestellt werden, egal ob diese Länder die Mittel haben, um den Ausbau erneuerbarer Energien zu forcieren oder nicht. Andersherum können Länder, die durch den Meeresspiegelanstieg bereits bedroht sind, die großen Emittenten nicht dafür bestrafen, dass sie ihr Existenzrecht missachten. Hier sind sie auf ernsthafte globale Zusammenarbeit bei der Umsetzung des Pariser Klimaabkommens angewiesen, darauf, dass die reichen Länder eigene Ziele tatkräftig umsetzen und internationale Zusagen einhalten. Einklagen können sie dies als Staaten bisher nicht.
Was aber würde geschehen, wenn es gelänge, alle Menschen von Armut zu befreien? Mittlerweile leben deutlich mehr als die Hälfte aller Menschen in Städten, also in weniger naturnahen Umwelten und mit modernen Konsummustern, wenngleich auch auf einem oft sehr niedrigen Niveau. Würde eine erfolgreiche Armutsbekämpfung die globalen Treibhausgasemissionen so stark erhöhen, dass es unmöglich wird, den Klimawandel aufzuhalten? Die Tatsache, dass China und Indien seit einigen Jahren den ersten bzw. zweiten Platz unter den vier absolut größten Treibhausgasemittenten besetzen – neben den USA und der EU, scheint dies zu bestätigen.
Eine neue Untersuchung von Forscher*innen aus den Niederlanden, China und den USA zu den Zusammenhängen zwischen Einkommen, Konsum und Kohlenstoff-Fußabdruck kommt zu anderen Ergebnissen.
Zunächst die gegenwärtige Lage: Der Konsum der unteren 50 Prozent der Weltbevölkerung ist nur für zehn Prozent der globalen Emissionen verantwortlich. Die reichsten zehn Prozent hingegen produzieren die Hälfte der globalen Emissionen; das Verhältnis ist also spiegelbildlich. Der Kohlenstoff-Fußabdruck pro Kopf liegt bei Indien mit 1,3 t CO₂ unterhalb des zulässigen Spektrums, der von China (4,5 t CO₂) liegt immer noch unter dem von Russland und Zentralasien (5,9 t CO₂), der EU (6,3 t CO₂) und den USA (14,5 t CO₂).
Wie stark steigen die Emissionen, wenn die Armut verringert wird? Wenn nur die knapp 700 Millionen Menschen, die heute in extremer Armut leben (mit weniger als 1,90 USD pro Tag), die nächsthöhere Einkommensgruppe erreichen, steigen die globalen Emissionen um weniger als ein Prozent. Gelänge es, allen Menschen ein tägliches Einkommen von über 5,50 USD zu ermöglichen, stiegen die Emissionen um 18 Prozent. Das erscheint viel, gemessen an den Emissionen der oberen 10 Prozent Einkommensbezieher jedoch nicht. Bezogen auf einzelne Länder wirkt sich die Emissionsintensität der einheimischen Verbrauchsmuster natürlich auch auf den damit verbundenen Emissionsanstieg aus.
Armutsbekämpfung ist also aus Sicht des Klimaschutzes kein Hindernis – sie setzt aber wesentlich entschiedeneres Handeln aufseiten der Hocheinkommensländer selbst voraus. Sie müssen die eigenen Emissionen senken – ebenso ihren absoluten Rohstoffverbrauch – und die Länder mit niedrigem Einkommen dabei unterstützen, ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung voranzutreiben und den Ausbau ihrer Energiesysteme klimaneutral zu gestalten.
In dieser Hinsicht hatte Indira Gandhi also recht: Die Überwindung von Armut und Not muss nicht auf Kosten der Natur und der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen gehen. Aber ohne aktive Strategien in allen Ländern, reichen wie armen, und eine gestärkte internationale Kooperation dafür wird dies nicht gelingen. Vor zehn Jahren und 40 Jahre nach der Konferenz in Stockholm haben sich alle Länder dazu verpflichtet, als sie die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit 17 Zielen und Handlungsfeldern beschlossen haben. An der Umsetzung können wir sie messen.
Dr. Imme Scholz ist seit April 2022 Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.
Zum Weiterlesen:
- Ramachandra Guha. 2002. Environmentalist of the Poor, Economic and Political Weekly (ein sehr schönes Porträt von Anil Agarwal vom Center for Science and Environment in Neu-Delhi, im Internet frei verfügbar)
- Sharachchandra Lélé. 1991. Sustainable Development: A Critical Review, World Development, Vol. 19, No. 6 (eine Kritik nachhaltiger Entwicklung mit Empfehlungen an Forschung und Politik, die teilweise erfüllt worden sind; in Universitätsbibliotheken zu finden)
- Benedikt Bruckner et al. 2022. Impacts of poverty alleviation on national and global carbon emissions, Nature Sustainability (zum Zusammenhang von Armutsbekämpfung und Treibhausgasemissionen, im Netz frei verfügbar) Maja Göpel. 2020. Unsere Welt neu denken, Ullstein Verlag