Eigenstaatlichkeit in weiter Ferne

Die Kurden zwischen Aufbruch und Repression. Ein Vortrag von Dr. Joseph Croitoru am 21.06.2018 in München

Kurdische Proteste

Die Kurden zwischen Aufbruch und Repression

Die Kurden, ein westasiatisches Volk mit indogermanischen Wurzeln, gerieten im Mittelalter unter die Herrschaft der sunnitischen Araber. Später, im Osmanischen Reich, genossen sie stellenweise eine gewisse Autonomie. Nach seiner Auflösung wurde ihnen von den europäischen Mächten ein eigener Staat zwar zugestanden, aber das Versprechen nicht eingehalten. In der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien leben sie seitdem als oft unterdrückte Minderheiten. Versuche – wie zuletzt 2017 –, einen kurdischen Staat in ihrem Stammgebiet im Irak zu gründen, scheiterten. Aber in Nordirak und neuerdings in Nordsyrien verfügen die Kurden über selbstverwaltete Gebiete. Auch wenn die Vision von einem gesamtkurdischen Staat fortlebt, so bleiben offene Fragen: Kann angesichts der unterschiedlichen Entwicklungen der Kurdengemeinden in den verschiedenen Ländern ein gemeinsam regiertes „Kurdistan“ überhaupt funktionieren? Haben wirklich alle Kurden dasselbe Ziel oder verfolgt jede regionale Gemeinschaft eher eigene Interessen?

Rückblick zusammengefasst mit Schwerpunkt auf den kurdisch-türkischen Beziehungen von Julia Koloda (Evangelische Stadtakademie München):

Die Kurden sind ein altes westasiatisches Volk indogermanischen Ursprungs mit eigener Kultur und einer dem Persischen verwandten Sprache. Das historische Siedlungsgebiet der Kurden erstreckt sich über die Türkei, den Iran und Irak sowie über Syrien. Die Kurden lebten stets unter Fremdherrschaft. Trotz etlicher Versuche einen eigenen Nationalstaat zu gründen, gelang ihnen dies bis heute nicht.  Joseph Croitoru zeichnete in seinem Vortrag in der Evangelischen Stadtakademie am 21.06.2018 die wichtigsten bisherigen Stationen des kurdischen Kampfes für einen eigenen Staat nach. 

Kurden und Osmanen

Unter islamisch-arabischem Einfluss traten viele Kurden zum sunnitischen Islam über. Im Jahr 1514, als die Osmanen einen entscheidenden Sieg über die Perser in Ostanatolien errangen (Schlacht bei Tschaldiran), räumten sie den Kurden bis in das 19. Jh. hinein eine gewisse Autonomie ein, die ihnen die Loyalität der Kurden sicherte. Im Zuge des Zerfalls des Osmanischen Reiches kam es zu mehreren kurdischen Aufständen. Einer der berühmtesten ist der von Soran, dessen Anführer Mohammed Rawanduz sich mehrere Jahre gegen die osmanische Armee behaupten konnte. Letztlich wurde der Aufstand niedergeschlagen und Rawanduz wurde ermordet. 

Atatürk und Kurden

Mustafa Kemal Pascha, der später den Ehrentitel „Atatürk“ (Vater aller Türken) erhielt, konnte die Kurden im Namen der islamischen Solidarität für den türkischen Befreiungskampf gegen die westlichen Besatzungsmächte mobilisieren. Solange er auf die kurdische Unterstützung angewiesen war, hatte Atatürk die türkisch-kurdische Brüderlichkeit hochgehalten. Mit der Staatsgründung im Jahr 1923 änderte sich das Verhältnis grundlegend. Die Kurden wehrten sich erbittert gegen die radikale Säkularisierungs- und Türkisierungspolitik Atatürks. 1925 führte die Unzufriedenheit zu einem Aufstand gegen die türkische Regierung. Scheich Said, der Anführer des Aufstands, erklärte die Regierung in Ankara zum Feind des Islam und legitimierte dadurch das rebellische Vorgehen der Kurden religiös. Im Juni 1925 wurden Scheich Said und seine Anhänger hingerichtet.

Die Katastrophe von Dersim

Eine weitere Niederlage erlitten alevitsche Kurden in Dersim zwischen 1937-1938, ein dunkles Kapitel in der Geschichte der modernen Türkei.

Die Aufstände in Dersim dienten der türkischen Regierung als Vorwand, die Kurden zu unterdrücken. Die Zerstörung der Dörfer, die Umsiedlung in den Westen, das Verbot der Sprache und kurdischen Kultur wurden als Mittel für das hohe Ziel der Modernisierung der Türkei in Kauf genommen. Bis ins späte 20 Jh. änderte sich kaum etwas an dieser Leugnungspolitik des türkischen Staates. 

Gründung der PKK

Abdullah Öcalan gründete die Arbeiterpartei Kurdistans in einer Zeit, die von sozialistischen Ideen geprägt war. Hier spielte die Religion, anders als bei früheren Aufständen und Rebellionen kurdischer Stämme, keine entscheidende Rolle mehr. Die Partei hatte eine marxistisch-leninistische Ausprägung und lieferte sich in der Osttürkei einen Jahrzehnte dauernden Guerillakrieg mit dem türkischen Militär. Die PKK propagierte einen Kurdenstaat, der sich über ein Gebiet erstrecken sollte, das Teile des Iran, Iraks, Syriens und der Türkei umfasst. 

Öcalan wurde vom Nordirak und Syrien aus unterstützt. Als er 1999 verhaftet wurde, begann eine neue Phase in der Entwicklung der PKK. 

Änderung des Kurses

Öcalan änderte seine Auffassung über die Zukunft des kurdischen Staates. Anstatt eines Großkurdistans, welches die Grenzen der umgebenden Länder sprengen würde, trat er nun für das Modell einer kommunalistischen Gesellschaftsstruktur ein: Es sollen autonome kurdische Gemeinschaften gebildet werden, die gleichberechtigt miteinander kommunizieren, ohne die Grenzen der jeweiligen Staaten, in denen sie leben, zu verletzen.

Erdoğan, AKP und Kurden

Öcalans Kursänderung fiel zeitlich mit dem Aufstieg der AKP ab dem Jahr 2002 zusammen. Erdoğan begann eine kurdenfreundliche Politik zu betreiben, um sich die kurdische Unterstützung bei den Wahlen zu sichern. Er führte ab 2013 Friedensgespräche mit der PKK, die zufriedenstellend verliefen, bis die Terrormiliz „Islamischer Staat“ auch das vorwiegend von Kurden bewohnte Nordsyrien mit Terror überzog.

IS und die türkische Politik

Als der IS die Stadt Kobane, eine hauptsächlich von Kurden bewohnte Stadt in Nordsyrien, überfiel, tat die türkische Regierung nichts, um den Kurden zu Hilfe zu kommen. Die Proteste der Kurden in der Türkei führten zum Stillstand der Friedensverhandlungen mit der PKK. Als die AKP die Wählerstimmen an die HDP (kurdische Partei in der Türkei) zu verlieren begann, fing Erdoğan an, kurdische Politiker zu diskreditieren und auszugrenzen. Der gescheiterte Militärputsch von 2016 lieferte auch den Vorwand für die Verfolgung kurdischer Politiker. Indes fand der Kampf der Kurden gegen den IS international Beachtung und wurde von den USA unterstützt. 

Ableger der PKK in Nordsyrien: PYD

Die PYD, Partei der demokratischen Union, von der PKK gegründet, richtete 2013 eine als basisdemokratisches Experiment deklarierte Autonomieverwaltung in Nordsyrien ein. Die türkische Regierung hat von Beginn an die Entwicklung Nordsyriens und vor allem die Expansionsbestrebungen der Autonomieverwaltung der Kurden mit Sorge verfolgt. Um diese zu verhindern, hat die Türkei mehrere Militäroperationen durchgeführt und mehrere Zonen Nordsyriens entlang der Grenze besetzt.

Gegenwärtige Entwicklung

Die Kurden des Nordiraks, die seit den 90er Jahren einen autonomen Status besitzen und eine wechselhafte und teilweise blutige Geschichte eines Bruderkrieges erlebten, forderten 2017 unter der Führung von Barzani vergeblich das Recht auf einen eigenen Nationalstaat. Die PYD in Nordsyrien sowie die PKK, die sich seit 10 Jahren „Regierung der Gemeinschaften Kurdistans“ nennt, halten diesen Ruf für verfrüht. Der Kampf für die Eigenstaatlichkeit bleibt auch unter den Kurden weiterhin ein umstrittenes Projekt.

Referent:

Dr. Joseph Croitoru
Historiker und Journalist, geb. 1960 in Haifa, Studium in
Jerusalem und Freiburg i. Breisgau, journalistisch tätig für
FAZ und NZZ mit den Schwerpunkten Nahost und Osteuropa

Partner

Evangelische Stadtakademie München