Politik in der Pandemie: Zielorientierte Beeinflussung in Corona-Zeiten

Hintergrund

Was passiert bei einer Wahl, wenn Wahlveranstaltungen, persönliche Begegnungen, Wahlwerbung an der Haustür, Spendensammlungen und Händeschütteln durch eine nationale bzw. globale Krise verhindert werden? Dann müssen die Parteien und Kandidierenden die Menschen dort erreichen, wo sie sind: online, zuhause, am Telefon oder über ihre Postfächer.

Da seit Beginn der Pandemie keine persönliche Wahlwerbung an der Haustür möglich ist, um die Wähler und Wählerinnen zu überzeugen und zu beeinflussen, waren die Kandidierenden und ihre Wahlkampfteams gezwungen, sich für den Aufbau persönlicher Bindungen voll und ganz auf ihre digitalen Strategien zu stützen. Gleichzeitig haben Politik und die Industrie der Meinungsmache für Wahlkämpfe neue und kreative Techniken entwickelt, um die Wählerschaft online und zuhause zu erreichen.

Im April wurde in Südkorea gewählt, wo sich der Wahlkampf üblicherweise auf persönliche Interaktion konzentriert. Dieses Jahr haben die Kandidierenden ihre Strategien angepasst und Talk-Shows auf YouTube abgehalten, ihre Reden ins Internet hochgeladen und der Wählerschaft QR-Codes angeboten, mit denen Wahlkampfmaterial heruntergeladen werden konnte.

In Singapur organisierten die Kandidierenden „Online-Wahlveranstaltungen“ und luden zu Livestream-Sitzungen ein, in denen die Wählerschaft Fragen aller Art stellen konnte.

In Belarus waren YouTube und die sozialen Medien der Schlüssel zur Mobilisierung der Opposition und bei der Wählerregistrierung. Die Demonstrationen, Proteste und Verhaftungen nach den Wahlen sind online im Livestream zu sehen.

Spontan geschaffene Technologien

Diese Verschiebung hin zu einem online geführten Wahlkampf war zwar auch schon vor Corona gängige Praxis in aller Welt, aber mit der Pandemie hat sich diese Entwicklung dramatisch beschleunigt. Und nirgends war diese Veränderung offensichtlicher als im US-Präsidentschaftswahlkampf von 2020.

Betsy Hoover, die Mitbegründerin der in Technologie investierenden US-Firma Higher Ground Labs, erklärte gleich zu Beginn der Pandemie: „Die Hinwendung zu einem digitalen Wahlkampf haben wir schon nach und nach über das letzte Jahrzehnt hinweg erlebt. Aber jetzt haben wir diesen Wandel im Grunde in einem einzigen Momentum innerhalb weniger Wochen vorangetrieben.“

Das bedeutet, dass einige dieser Neuheiten oder experimentellen Methoden bei Millionen von Wählerinnen und Wählern angewandt werden, ohne dass Zeit für Tests oder Überlegungen zum Datenschutz blieb. Auch die Wahlkommissionen hatten nicht die Zeit, ihre Bestimmungen anzupassen, und die Social-Media-Plattformen hatten Mühe, mitzuhalten.

Die Entwicklungen während der US-Wahlen können als Fallstudie dienen, wie sich der digitale Wahlkampf weltweit verändern wird, denn die US-amerikanische Industrie der Meinungsmache hat ihre datengestützten Taktiken schon von Anfang an exportiert.

Die Kampagnen werden kreativ

Laut einer Schätzung gaben Joe Biden und Donald Trump in den Monaten vor den Präsidentschaftswahlen von 2020 etwa 98 Mio. bzw. 150 Mio. USD allein für Werbung auf Facebook aus. Aber Werbeausgaben auf Facebook sind jetzt nur ein Teil eines viel größeren Puzzles. Die Kampagnen verzweigen sich, um die Wählerschaft auch auf einer Reihe anderer Plattformen zu mobilisieren, unter anderem auf YouTube, Reddit, TikTok und Snapchat.

Im letzten Monat spielte die demokratische Kongressabgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez ein Computerspiel online auf der Streaming-Plattform Twitch und erreichte damit 450.000 Menschen. Und Joe Bidens Wahlkampfteam gestaltete eine Biden gewidmete Insel in dem beliebten Videospiel Animal Crossing. Mit beiden Vorgehensweisen wurde insbesondere die jüngere Wählerschaft erreicht, und zwar zuhause an ihren Schreibtischen und an ihren Handys, also an Orten, die typischerweise der Unterhaltung dienen.

Da dies die ersten Vorstöße der Politik auf diesen Plattformen darstellt, können sie problemlos genutzt werden, um die bestehenden Wahlkampfbestimmungen zu umgehen. Beispielsweise heuerten die Wahlkampfstrategen beider US-Parteien die Dienste von Content-Entwicklern für die Gestaltung von „Hype Houses“ auf TikTok an, um für die Apps oder SMS-Dienste von Kandidierenden zu werben, und umgingen damit TikToks Verbot von politischer Werbung auf seiner Plattform.

Der Aufstieg der Mikro-Influencer

Da persönliche Wahlkundgebungen ausfielen, erschlossen sich die Kandidierenden in den USA ein neues digitales Marketing-Tool: Influencer und Influencerinnen, die Werbung für sie in den sozialen Medien machen. Die Influencer-Agentur Village Marketing half beispielsweise Joe Biden dabei, sich im Livestream ausgestrahlte „Lockdown-Interviews“ mit populären Online-Influencern wie der Rapperin Cardi B sowie den Podcast-Stars Khadeen und Devale Ellis zu sichern. Das verschaffte ihm eine engere Verbindung zu deren Followern und ermöglichte ihm, eine jüngere Wählerschicht zu erreichen, die vielleicht auf diese Interviews stießen, wenn sie durch Feeds auf Instagram oder anderen Plattformen scrollten.

Neben dem Buhlen um Unterstützung von Berühmtheiten mit großer Gefolgschaft in den sozialen Medien setzten die Wahlkampfstrategen auch sogenannte Mikro-Influencer wirksam ein – ganz normale Menschen mit 5.000 bis 20.000 Followern in den sozialen Medien – und bezahlten sie dafür, Tweets oder Botschaften mit parteipolitischen Inhalten zu veröffentlichen. Botschaften von Mikro-Influencern gelten als besonders wertvoll für Werbekampagnen, weil sie von den Zielgruppen als authentischer und vertrauenswürdiger wahrgenommen werden als traditionelle Werbung. Zudem haben die Mikro-Influencer mehr Zeit für den persönlichen Austausch mit ihren Followern als die Kandidierenden selbst oder die sie unterstützenden Promis.

In einer dazu am Center for Media Engagement an der Universität von Texas in Austin durchgeführten Studie heißt es: „Wenn hochentwickelte Technologien wie CRMs, Werbe-Analyse-Tools und Social-Listening-Software in Verbindung mit Nano-Influencern zum Einsatz kommen, kann man im Wahlkampf Herden „digitaler Klinkenputzer“ koordiniert einsetzen, und zwar in einer Größenordnung, die man mit der üblichen Haus-zu-Haus-Wahlwerbung nie erreichen würde. Und dabei kann man sogar in enge Beziehungsnetzwerke eindringen, zu denen man ansonsten keinen Zugang hätte.“

Da der Einsatz von Mikro-Influencern zur Weitergabe politischer Botschaften noch relativ neu ist, können die Wahlkampagnen damit die Bestimmungen zu politischer Werbung und zur Offenlegung von Wahlkampfkosten umgehen. Ein Instagram-Post von einem Mikro-Influencer könnte beispielsweise als „Branded Content“ ausgegeben werden, statt als politische Werbung zu gelten.

Eine Flut von E-Mails, automatisierten Anrufen und SMS

Vor dem Hintergrund der Pandemie kam es im US-Wahlkampf auch zu einer massiven Zunahme von E-Mails, Robocalls und Peer-to-Peer-Textnachrichten, um die Wählerschaft anzusprechen. Das waren zwar schon immer die grundlegenden Methoden im digitalen Wahlkampf, aber in der Pandemie haben viele Unternehmen Profit daraus geschlagen, der Politik ihre Marketing-Dienste anzubieten.

Einer Studie zufolge wurden bei der überwiegenden Mehrheit politischer E-Mails manipulierende Taktiken wie Dark Patterns oder Clickbaits genutzt, um die Angeschriebenen dazu zu bringen, die Mails zu öffnen. Das Wahlkampfteam von Donald Trump, das mit der Menge an E-Mail-Adressen prahlte, die es bei Wahlveranstaltungen sammeln konnte, nutzt diese Adressenliste auch noch nach den Wahlen, um Trumps Anhängerschaft per E-Mail um Spenden zu bitten.

Neben der Flut an E-Mails, die im Wahlkampf während der Pandemie versendet wurden, vereinfachten eine Reihe neuer oder „verbesserter“ digitaler Tools auch den Versand von Massen-SMS und erleichterten automatisierte Anrufe. Im Vorfeld der US-Wahlen wurden schätzungsweise drei Milliarden politische SMS verschickt, was durch Unternehmen wie RumbleUp mit ihrer Peer-to-Peer-SMS-Plattform ermöglicht wurde.

Das Unternehmen rühmt sich auf seiner Webseite, Zugang zu „umfassenden nationalen Wählerverzeichnissen, Konsumenten, Wahlkreisen, möglichen Nichtwähler/innen, nicht registrierten Wähler/innen und deren Kontaktdaten (einschließlich Postanschrift, Handy- und Festnetznummern sowie E-Mail-Adresse)“ zu haben. Zudem bietet das Unternehmen „einen Filter für umfangreiche Wählerdaten mit hunderten verschiedener Verhaltensattribute, Bevölkerungsstatistiken und prognostischen Daten, um Ihrer Kampagne eine exzellente, bedarfsgerechte Zielgruppenanalyse bereitzustellen“.

Die Wahlkampagnen bedienten sich auch modernster Marketing-Tools für automatische Anwählverfahren, wie etwa den Dienst PhoneBurner, der es den Anrufenden erlaubt, ihre Telefonnummern mit lokalen Anrufer-IDs zu tarnen und „vorab aufgenommene Sprachnachrichten mit einem Klick auf Anrufbeantwortern zu hinterlassen, ohne den Signalton abwarten zu müssen“.

Wählerunterdrückung, Desinformation und andere Taktiken

Die vielleicht alarmierendste Folge der politischen Machenschaften in der Pandemie ist das Ausmaß, in dem digitale Techniken dazu genutzt werden, Wählerstimmen zu unterdrücken und Desinformationen zu verbreiten. Am Wahltag der US-Wahlen erhielten Wähler/innen in mehreren Bundesstaaten automatisierte Anrufe und Textnachrichten, in denen sie aufgefordert wurden, „sicherheitshalber zuhause zu bleiben“.

Nur wenige Wochen zuvor hatten Wähler/innen E-Mails erhalten, die von rechtsextremen Pro-Trump-Gruppen zu kommen schienen und die Aufforderung bzw. Drohung enthielten, für Trump zu stimmen „oder Sie bekommen es mit uns zu tun“. ProPublica berichtete, dass an Teile der chinesischstämmigen Wählerschaft über WeChat die Fehlinformation verbreitet wurde, die Teilnahme an den Wahlen könne gefährlich sein. Ähnliche Nachrichten wurden an die Wählerschaft südasiatischer Herkunft über WhatsApp verbreitet.

Wenn 2016 das Jahr war, in dem Werbung auf Facebook und Mikrotargeting angeblich wahlentscheidend waren, dann hat 2020 gezeigt, dass es jetzt eine breitere Palette an digitalen Taktiken gibt, die Kandidierenden einen Vorteil verschaffen können.

Die Notwendigkeit, neue Methoden zu erdenken, um die Wählerschaft in der Pandemie zu erreichen, hat dem politischen Wahlkampf weitere Möglichkeiten eröffnet, die zuvor meist nur für Vermarktung, Unterhaltung und persönliche Kommunikation genutzt wurden. Wahrscheinlich werden die Techniken, die sich bei den US-Wahlen als erfolgreich erwiesen, exportiert und von Wahlkampagnen außerhalb der USA übernommen, während die US-amerikanische Industrie der Meinungsmache sich auch in anderen Ländern nach erfolgreichen Methoden umsehen wird, die sie auf dem heimischen Markt vertreiben kann.

Auf jeden Fall bedeutet die Verwischung der traditionellen und erwarteten Grenzen zwischen politischem Wahlkampf und den alltäglichen Online-Aktivitäten der Wählerschaft, dass es schwieriger wird, zwischen persönlichen und politischen Kommunikationskanälen zu unterscheiden. Zudem geht diese Verschiebung mit dem Risiko einher, dass diejenigen, die keinen Internetzugang haben, von der Teilhabe und quasi vom Wahlrecht ausgeschlossen werden.

Da nichts darauf hindeutet, dass dieser Trend sich umkehren wird, sollten die Regulierungsbehörden, die politisch Verantwortlichen und die Social-Media-Plattformen ihre Aufmerksamkeit darauf richten, wie diese digitalen Methoden die Gestaltung von Politik verändert – wer wird erreicht, auf welche Weise, mit welchen Botschaften und zu welchen Kosten?


Um mehr über das „Wer, Was und Wo“ der Industrie der politischen Meinungsmache herauszufinden, kann man den Bericht von Tactical Report Personal Data: Political Persuasion herunterladen oder sich unser Video ansehen.