Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU: „Wir müssen eine unbequeme Wahrheit aussprechen“

Interview

Ein Interview mit dem Europaabgeordneten Sergey Lagodinsky (Grüne/EFA) zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU, den Vorschlägen der Kommission und den Forderungen des Europäischen Parlaments.

Lesedauer: 11 Minuten

Sergey, in den letzten Wochen ist viel vom Rechtsstaatsmechanismus die Rede. Dabei ist nicht immer klar, dass mit diesem Begriff verschiedene EU-Verfahren zur Einhaltung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten gemeint sind. Ende September 2020 stellte die Kommission ihren ersten, systematischen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in der EU vor. Diesen Bericht versteht die Kommission als das Fundament des neuen „EU-Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“, der einen jährlichen Dialog zwischen der Kommission, dem Rat und Europäischen Parlament ermöglichen soll. Wie bewertest Du den Bericht und das Verfahren?

Zunächst müssen wir uns darüber klarwerden, welche unterschiedlichen rechtlichen Instrumente in unterschiedlichen Kontexten als „Rechtstaatsmechanismus“ bezeichnet werden. Einer meiner Kritikpunkte ist, dass wir ständig neue Instrumente auf den Weg bringen und irgendwann die Bürger/innen nicht mehr durchblicken, manche Politiker/innen auch nicht. Grundsätzlich haben wir verschiedene Instrumente, die dazu dienen, Verstöße gegen die Grundwerte der EU überhaupt zu identifizieren. Auf der Ebene des Parlaments gibt es schon jetzt die Beobachtergruppe des Innenausschusses (LIBE) zu Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit, in der ich Mitglied bin. Es gibt auch einen jährlichen parlamentarischen Bericht zur Lage der Grundrechte in der EU. Der Rat, also die Versammlung der Regierungen der Mitgliedstaaten, hat das sogenannte „Peer Review“ eingeführt: Eine regelmäßige Selbstevaluierung der Rechtsstaatlichkeit zwischen den Mitgliedstaaten untereinander. Es gibt noch zwei bekanntere „ältere“ Instrumente, die geographisch oder sektoral spezifisch sind: das Kooperations- und Kontrollverfahren für Bulgarien und Rumänien mit den Schwerpunkten Justizreform und Korruptionsbekämpfung sowie das sogenannte EU-Justizbarometer, das den Zustand der Justizsysteme in allen EU-Ländern auswertet.

Ich sehe kritisch, dass der Bericht durch die selektive Fokussierung nur Ausschnitte aus dem Gesamtproblem aufzeigt.

Mit dem Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020 wurde von der Kommission nun erstmals eine Bestandsaufnahme der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten durchgeführt. Die Themenbereiche werden jährlich neu ausgewählt, in diesem Jahr waren es die Unabhängigkeit der Justiz, Medienfreiheit und Anti-Korruption. Auf der Basis dieses Berichts tritt die Kommission in Konsultationen mit den Mitgliedstaaten und anderen EU-Organen und erhofft sich dadurch freiwillige Änderungen in den Mitgliedstaaten. Diesen jährlichen Prozess bezeichnet die Kommission als „Rechtstaatsmechanismus“. Mein Eindruck von diesem Bericht über die Rechtsstaatlichkeit ist ambivalent. Einerseits hat keiner von uns etwas richtig Neues aus der Evaluation gelernt, da es sich eher um ein Kompendium bekannter Fakten handelt. Andererseits haben viele NGOs in besonders betroffenen Ländern, wie Ungarn oder Polen, es als Erfolg angesehen, dass die dortige Situation überhaupt ausführlich beschrieben wurde. Ich sehe kritisch, dass der Bericht durch die selektive Fokussierung nur Ausschnitte aus dem Gesamtproblem aufzeigt. Die Wahrung von Grundrechten wird ebenso wenig thematisiert wie Antidiskriminierung. Zudem erscheint die Aufzählung der Verfehlungen in der Hoffnung auf Einsicht der Verantwortlichen mittlerweile äußerst naiv. Der Bericht folgt meines Erachtens in der Methode und Tonalität weniger dem bewährten Prinzip der internationalen Zusammenarbeit des „naming and shaming“ – vielmehr handelt es sich um das Prinzip „naming without shaming“. Konkrete Schlussfolgerungen sind kaum vorhanden. Die Regierungen in Ungarn oder Polen haben schon mehrmals demonstriert, dass sie sich davon nicht beeindrucken lassen. Auf dem Tisch liegt seit Herbst auch ein Vorschlag des Europäischen Parlaments zu einem interinstitutionellen und effektiven Rechtsstaatsmechanismus, an dem ich mitgewirkt habe. Es geht darum, die drei Institutionen (Rat, Kommission und Parlament) an einer konsolidierten und ganzheitlichen Erfassung der Defizite zusammenarbeiten zu lassen. Die daraus resultierenden Erkenntnisse sollen zu realen und effektiven Folgemaßnahmen führen, auch zu finanziellen Kürzungen.

Im November haben sich die Kommission, der Rat und das Europäische Parlament nach monatelangen Verhandlungen auf die Einführung einer Rechtsstaatskonditionalität geeinigt, d.h. auf die Verknüpfung der Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien mit dem EU-Haushalt (Mehrjähriger Finanzrahmen MFR 2021-2027) und dem Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ (NGEU). Es handelt sich hierbei um einen Sanktionsmechanismus. Wie bewertest Du den Kompromiss?

Hier sind wir auf der zweiten und äußerst wichtigen Ebene angelangt – der Ebene der Konsequenzen. Was folgt denn überhaupt aus den Feststellungen im Rahmen der obigen Instrumente? Was können die kritischen Bewertungen überhaupt bewirken? Bisher setzten der Rat und die Kommission ihre Hoffnungen darauf, Rechtsstaatsverstöße transparent zu machen, auf Gerichtsverfahren und auf das politische Artikel 7-Verfahren aus dem EU-Vertrag. Über den ersten „therapeutischen Weg“, also den kontinuierlichen Dialog, sind wir längst hinaus. Die Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), etwa gegen Angriffe auf die unabhängige Justiz, sind unglaublich wichtig, aber zu zeitaufwendig und punktuell. Und das Artikel 7-Verfahren stockt, weil es ein politischer Prozess mit vielen Hürden ist. Indes zerfällt der gemeinsame, europäische Werteraum durch systematische Angriffe in einigen Ländern der EU. Was tun? Der einzige verbleibende Weg ist das, was immer gut funktioniert – Geldkürzungen. Dieser Vorschlag wird vereinzelt auch als Rechtsstaatsmechanismus bezeichnet, korrekterweise sollten wir hier aber vom Konditionalitätsmechanismus sprechen. Verstöße gegen EU-Werte könnten demnach zu Kürzungen der EU-Finanzierung bei den betroffenen Nationalregierungen führen. Der Mechanismus soll zusammen mit dem zu verabschiedenden EU-Haushalt 2021-27, inklusive des nunmehr daran gekoppelten Covid19-Wiederaufbauinstruments, beschlossen werden.

Unsere Position ist klar und fraktionsübergreifend: Es darf keine Abschwächung des Instruments geben.

Doch die Frage ist, wie diese Konditionalität ausgestaltet und wie sie überhaupt aktiviert werden soll. Die Kommission hat dazu einen mutigen und richtigen Vorschlag vorgelegt. Hiernach könnten die Finanzkürzungen durch die Kommission eingeleitet werden, es sei denn, eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten würde dem widersprechen. Man nennt dies die umgekehrte qualifizierte Mehrheitsentscheidung („Reversed Qualified Majority“). Der Vorschlag würde die Hürde für solche Maßnahmen niedrig hängen, die Beurteilung der Kommission überlassen und wäre somit hocheffektiv. Kein Wunder, dass dieser Vorschlag durch den Rat abgeschwächt und durch die Mitgliedstaaten bis zur Unkenntlichkeit demoliert wurde. Ungarn und Polen setzen alles daran, dem möglichen Konditionalitäts-Tiger die Zähne zu ziehen.

Das Europäische Parlament ist daraufhin zur Rettung der Rechtsstaatskonditionalität herbeigeeilt. Unsere Position ist klar und fraktionsübergreifend: Es darf keine Abschwächung des Instruments geben. Nach langen, zähen Verhandlungen entstand, wie so oft zwischen EU Institutionen, ein Kompromiss. Demzufolge ist der Konditionalitätsmechanismus zwar nicht, wie von einigen Mitgliedstaaten vorgesehen, lediglich auf Verfehlungen bei den Ausgaben der EU-Finanzen beschränkt, aber kann dennoch erst mit qualifizierter Mehrheit der Mitgliedstaaten und nicht durch eine realistischere Entscheidung der Kommission eingeleitet werden. Ich halte den Mechanismus damit für kaum wirksam. In der Realität wird es nicht dazu kommen, die nötige Mehrheit der Staaten zu finden. Wer soll denn diese Mehrheit überhaupt organisieren können oder wollen? Wir müssen aber realistisch bleiben – in einer Situation, in der die künftig betroffenen Staaten über einen solchen Mechanismus mitentscheiden, hat es kaum andere Optionen gegeben. Die Errungenschaft besteht schon alleine darin, dass es eine solche Konditionalität möglicherweise geben könnte. Konkret verspreche ich mir aber wenig davon. Aus meiner Sicht muss die Kommission stattdessen verstärkt auf den Rechtsweg setzen und die Staaten für Verletzungen der EU-Werte aktiver und mutiger vor den Europäischen Gerichtshof bringen.  

Eigentlich sollte der MFR und NGEU schon längst unter Dach und Fach sein, inmitten der Pandemie sind viele Mitgliedstaaten auf die Auszahlung der Mittel angewiesen. Aber derzeit blockieren die ungarische und polnische Regierung die Verabschiedung des MFR und NGEU, weil sie nicht mit dem ausgehandelten Kompromiss zum Konditionalitätsmechanismus einverstanden sind. Welche Ziele verfolgen Orbán und Morawiecki Deiner Meinung nach?

Ja, wer geglaubt hat, dass das soeben Beschriebene schon der finale Akt des Dramas war, muss enttäuscht werden. Nicht mal den zahnlosen Konditionalitätsmechanismus scheinen Orbán und Morawiecki zu akzeptieren. Aus meiner Sicht geht es ihnen aber weniger um den Widerstand gegen die Konditionalität, als um eine erneute Erpressung. Schon während der schwierigen Verhandlungen im Sommer hatte es Berichte über die mündliche Absprache zwischen Kanzlerin Merkel und Orbán gegeben, wonach ein Teil des Deals gewesen sein soll, dass die laufenden Artikel 7-Verfahren gegen Polen und Ungarn eingestellt werden sollten. Meine Vermutung ist, dass dies nun das eigentliche Ziel ist: Die Zustimmung zum Konditionalitätsmechanismus und zum Haushalt solange hinauszuzögern, bis der Rat über die Beendigung der Artikel 7-Verfahren abstimmt.  

Lange Zeit haben die ungarische und polnische Regierung es so aussehen lassen, als wären sie Opfer einer Kampagne und als würde die EU sie mit dem Geld erpressen. Nun fallen die Masken – es sind diese beiden Regierung, die die nötige Hilfe in der Krise blockieren.

Wo stehen die Artikel 7-Verfahren gegen die polnische und ungarische Regierung heute?

Die Verfahren hängen in der Luft. Besonders misslich ist, dass das Europäische Parlament, das ja das Verfahren gegen Ungarn selbst angestoßen hatte, überhaupt nicht an dem Prozess beteiligt wird. Wo der Parlamentarismus ausgebremst wird, da stockt auch der politische Ehrgeiz. Das Prozedere ist zu formellen Diskussionen auf Minister/innenebene verkommen. Die Verfahren wirken ambitionslos, gerade weil das Europäische Parlament außen vor bleibt. Aber gerade deswegen müssen diese Verfahren weitergehen. Das Schlimmste, das jetzt passieren könnte, ist, dass die Verfahren ohne wirksame Ergebnisse abgestimmt und geschlossen werden. Das ist genau das, was die ungarische und polnische Regierung mit ihrer Erpressung bezwecken. Das darf die deutsche Ratspräsidentschaft nicht zulassen. Aus derzeitiger Perspektive würde ich sogar sagen: Lieber den Spatz in der Hand, also die schlecht, aber dennoch laufenden Artikel 7-Verfahren, als der abgeschwächte und schwer anzukurbelnde Konditionalitätsmechanismus. Wenn Ungarn und Polen das Geld aus dem Wiederaufbaufonds nicht haben wollen, sollten diese Gelder unter den bereitwilligen Staaten verteilt werden. Das ist zwar ein Risiko für die EU, aber das Risiko, dass die EU an illiberaler Sturheit aus Budapest und Warschau zerfällt, ist genauso vorhanden. 

Kommissionspräsidentin von der Leyen hat die Regierungen in Budapest und Warschau dazu aufgerufen, ihre Blockadehaltung aufzugeben und sich im Falle rechtlicher Bedenken an den Europäischen Gerichtshof zu wenden. Wie beurteilst Du diesen Vorschlag?

Das ist einer der Auswege. Vor allem weist dieser Vorschlag in die richtige Richtung. Lange Zeit haben die ungarische und polnische Regierung es so aussehen lassen, als wären sie Opfer einer Kampagne und als würde die EU sie mit dem Geld erpressen. Nun fallen die Masken – es sind diese beiden Regierung, die die nötige Hilfe in der Krise blockieren. Fast alle beteiligten Akteur/innen haben Zugeständnisse gemacht, um die Finanzierung der Krisenprogramme zu ermöglichen und zumindest ansatzweise gegen Grundrechtsverletzungen, den Abbau des Rechtstaats und Korruption vorzugehen. Doch das bisschen durchsetzbare Demokratie ist den offen illiberal Regierenden in Warschau und Budapest Gefahr genug, um die Hilfe für alle anderen notleidenden Staaten zu blockieren. Mir fehlt hier seitens der beiden Regierungen der Sinn für ein aufgeklärtes und langfristiges Eigeninteresse. Haushaltsverhandlungen kommen und gehen, aber die anderen EU-Mitglieder werden auch nach diesem Eklat für Orbán und Morawiecki nicht verschwinden. Es wird sicherlich irgendwann dazu kommen, dass beide Regierungen ihrerseits auf die Solidarität der anderen angewiesen sein werden. Ausgesprochen kurzsichtig verbauen sie sich somit diese in der Zukunft benötigte Solidarität. 

Wir sollten auch mehr Möglichkeiten suchen, um Künstler/innen und Aktivist/innen aus Polen und Ungarn Freiräume in unseren Städten und Kommunen anzubieten.

Warum ist die EU gegenüber autoritären Regierungschefs so machtlos? Wie kann zukünftig vermieden werden, dass zwei Regierungen in einem zynischen Machtspiel die gesamte EU in Geiselhaft nehmen? Wie können wir zukünftig die europäische Zusammenarbeit gestalten, ohne dass europäische Werte mit den Füßen getreten werden?

Wir müssen eine unbequeme Wahrheit aussprechen. Die EU ist an dieser Stelle strukturell unterentwickelt und für jede Verbesserung brauchen wir eben die Zustimmung derjenigen, die selbst autoritär sind. Daher können wir auch keinen Feuerschutz mehr einbauen, sondern sind dazu verdammt, Feuerwehr zu spielen und die Brände einzeln zu löschen. Für mich persönlich bedeutet das, dass ich viel stärker auf Rechtsschutz vor dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte setzen werde, aber auch darauf, konkreten Vertreter/innen aus der Zivilgesellschaft zu helfen. Als Rapporteur des Parlaments für Vereinsrecht und Gemeinnützigkeit setze ich mich z.B. für eine paneuropäische und geschützte Zivilgesellschaft ein. Wir sollten auch mehr Möglichkeiten suchen, um Künstler/innen und Aktivist/innen aus Polen und Ungarn Freiräume in unseren Städten und Kommunen anzubieten. Für viele ist die Situation in den beiden Ländern mittlerweile kaum ertragbar.

Wie kann die Rolle des Parlaments bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit zukünftig gestärkt werden?

Wir müssen alle Instrumente, die ich zu Beginn erwähnt habe, konsolidieren. Am besten unter dem Dach, mindestens jedoch mit starker Beteiligung des Parlaments. Nur so vermeiden wir, dass Deals oder falsche Rücksicht zwischen Mitgliedstaaten auf dem Rücken der Demokratien ausgetragen werden. Das Parlament ist auch in dieser Hinsicht die progressivste Institution und das sollten wir nutzen. Unser parlamentarischer Vorschlag für einen interinstitutionellen Rechtstaatsmechanismus wäre hier der richtige Weg.

Sergey, wir danken Dir für das Gespräch.


Dr. Sergey Lagodinsky, Mitglied des Europäischen Parlaments, ist stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses, Mitglied in der Democracy, Rule of Law and Fundamental Rights Monitoring Group des Innenausschusses sowie Rapporteur für Vereinsrecht und Gemeinnützigkeit.

Das Interview führte Eva van de Rakt, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Brüssel.