Flucht und Rassismus: Solidarität muss bedingungslos sein

Analyse

Geflüchtete aus der Ukraine brauchen die uneingeschränkte Unterstützung und Solidarität Europas. Aber nicht, weil sie europäisch und viele von ihnen weiß sind, sondern weil sie vor todbringenden Bomben und Gewalt fliehen. Über doppelte Standards, rassistische Narrative in den Medien und die selektive Solidarität Europas schreibt Hakan Akçit in seiner Analyse.

Lesedauer: 10 Minuten
Teaser Bild Untertitel
Flucht aus der Ukraine: Przemyśl, Polen am 27.02.2022

Aktuell beschleicht Europäer*innen mehr denn je das Gefühl, dass die Zeit aus den Fugen geraten ist. Nach der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, den weltweiten Brand- und Flutkatastrophen 2020/21, der Präsidentschaft des Egomanen Donald Trump 2017-2021 und der noch anhaltenden Corona-Pandemie seit 2019 ist Europa nun mit einem Krieg konfrontiert, der nicht wie andere Kriege und Konflikte weit entfernt ist, sondern unmittelbar an den Grenzen der Europäischen Union stattfindet und das Potential hat, noch größer und bedrohlicher zu werden, als es für Millionen von Ukrainer*innen bereits der Fall ist. Wieder müssen Menschen in Todesangst fliehen, von heute auf morgen ihr gewohntes Leben aufgeben, nur mit dem Nötigsten im Gepäck, weil der machtbesessene Autokrat Putin beschlossen hat, ohne Rücksicht auf Verluste Krieg zu führen und mit wirrem Blick der gesamten Weltöffentlichkeit die „Entnazifizierung der Ukraine“ als Grund für die Invasion nennt. Doch diesmal scheint Europa für eine weitere Flüchtlingskrise gewappnet zu sein. Man agiert geschlossen, spricht mit einer Stimme und ist sich einig, dass den Menschen schnellstmöglich geholfen werden muss, ohne dass man sich wie in den Jahren zuvor einer kühlen Arithmetik zur Berechnung von Aufnahmekapazitäten in Relation zur Einwohnerzahl bedient. Selbst Länder wie Polen und Ungarn, die sich in den Jahren zuvor weigerten, Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder anderen Kriegsgebieten aufzunehmen und sich geradezu als Bollwerk verstanden, das Europa vor der Invasion seitens „fremder Kulturen“ schützt, erinnern sich plötzlich an ihre humanistischen Werte und die christliche Nächstenliebe. Plötzlich öffnen sich die Tore Europas für alle Geflüchteten, so wie es unter normalen Umständen auch sein sollte, um allen Menschen, die vor einem Krieg fliehen, so unbürokratisch, schnell und einfach wie nur möglich zu helfen. Allen? Leider nein.

Nicht allen Flüchtlingen gilt die unbürokratische Hilfe, denn es muss ein wichtiges Kriterium erfüllt werden: man darf nicht Schwarz und/oder muslimischen Glaubens sein, d.h. wenn man als BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) bis vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine gelebt hat, ist die Todesangst, die man vor dem Krieg und den russischen Truppen empfindet, zweitrangig und nicht priorisiert. Dieser Umstand wird Schwarzen Menschen unmittelbar an den europäischen Grenzen vermittelt, indem Grenzschützer und Soldaten, wie der Presse und privaten Aufnahmen zu entnehmen ist, Schwarze Menschen gezielt selektieren und an der Ausreise per Bus und Bahn nach Europa und somit an der Flucht aus einem Kriegsgebiet hindern. Auch flüchtenden Rom*nja, ganz gleich ob mit oder ohne Dokumenten, wird die Einreise in die Europäische Union seitens ukrainischer Grenzschützer erschwert, wobei Rom*nja ohne Papiere kaum eine Möglichkeit haben, vor dem Krieg in die EU zu flüchten und an den Grenzübergängen von den ukrainischen Grenzschützern aussortiert werden. Hier zeigt sich wieder einmal in aller Deutlichkeit, dass es in Europa durchaus einen Unterschied macht, welche Hautfarbe bzw. Religionszugehörigkeit ein geflüchteter Mensch hat. Flüchtling, so scheint es, ist nicht gleich Flüchtling und die Fähigkeit zur Empathie nimmt ab, je weniger die Geflüchteten dem Bild von Europäer*innen entsprechen.

Rassistische Narrative in den Medien

Bereits wenige Tage nach der Ankunft der ersten Geflüchteten aus der Ukraine wurde sowohl in der Presse als auch in den sozialen Medien in echte und falsche Flüchtlinge unterteilt. Echte Flüchtlinge sind nach Marc Felix Serrao, Chefredakteur der NZZ Deutschland, jene, die es verdient haben, aufgenommen zu werden, weil das Land, aus dem sie fliehen, in Europa liege, und daher jetzt auch die richtige Zeit für eine Willkommenskultur sei. Und da es sich um europäische Flüchtlinge handelt und nicht um Geflüchtete aus einem Dritte-Welt-Land, sind sie zivilisiert, gut gekleidet, aufrichtig und keine Wirtschaftsflüchtlinge wie all diese nicht-europäischen jungen Männer, denen es doch gar nicht so schlecht gehen könne, denn wie in der Flüchtlingskrise 2015 behauptet wurde: sie besitzen alle Smartphones, die sie auch auf ihrer Flucht mitführen. Und überhaupt sind die Ukrainer*innen mutig, weil sie ihr Land verteidigen. Sie sind gebildet und müssen schnellstmöglich Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten; sie gehören zu unserem Kulturkreis, sind wie du und ich, d.h. weder potentielle Kriminelle noch Terroristen und vor allen Dingen: sie sind weiß.

Im Gegensatz zu den aktuellen aus der Ukraine flüchtenden Menschen befinden sich die geflüchteten Menschen aus Syrien, Afghanistan und allen Kriegsgebieten Asiens, Afrikas, und des Vorderen Orients, die schlecht und unaufrichtig seien, weil sie aus niederen Gründen fliehen würden, denn eigentlich würden sie aus sicheren Herkunftsländern stammen und sich lediglich aus wirtschaftlichen Gründen auf den Weg nach Europa machen. Und feige seien sie, wie ihnen etwa der pensionierte deutsche NATO-General Hans-Lothar Domröse in der Sendung hart aber fair attestiert, weil all die wehrfähigen jungen Männer ihr Land verteidigen sollten anstatt nach Europa zu flüchten. Dass Julian Reichelt, der ehemalige und wegen des Vorwurfs des Machtmissbrauchs entlassene Chefredakteur der Bild auf diesen Zug aufspringt und einen Monat später auf Twitter ein Foto der amtierende Außenministerin Annalena Baerbock im Gespräch mit einem aus Kiew geflüchteten Schwarzen Studenten teilt, versehen mit dem Kommentar „Alle Männer in der Ukraine verteidigen ihr Haus. Nur nicht Klaus. Der schummelt sich raus“, ist nur eines von vielen Beispielen unverhohlen verbreiteter rassistischer Ansichten einiger Journalist*innen. Zu erwähnen wäre z.B. auch ein Artikel über einen Polizeieinsatz in einer Münchner Flüchtlingsunterkunft, der am 30.03.2022 in der Bild erschienen ist, in dem wie üblich eine namentlich nicht genannte Insiderin der Bundespolizei gegenüber der Zeitung ausgesagt habe, dass nur ein Bruchteil wirklich ukrainische Flüchtlinge seien und der überwiegende Anteil eher der Volksgruppe der Sinti und Roma angehöre, die sich offenbar ukrainische Pässe gekauft hätten. Dass solche nicht weiter belegten "Insider-Aussagen" in der auflagenstärksten Tageszeitung Deutschlands nur dazu beitragen, den bereits existierenden und zunehmenden Antiziganismus in Deutschland weiter zu befeuern, scheint für einige Medienschaffende entweder Programm zu sein oder nur ein Kollateralschaden, den man dem innergesellschaftlichen Frieden zufügt und den man bewusst in Kauf nimmt, um auch weiterhin die auflagenstärkste Zeitung in Deutschland zu bleiben.

Selektive Solidarität statt universelle Menschenrechte

Die Bemühungen der europäischen Staaten, den flüchtenden und schwer traumatisierten Menschen aus der Ukraine schnellstmöglich und unkompliziert zu helfen, ist eine dringende Notwendigkeit und die Pflicht eines jeden Landes, das sich den humanistischen Werten verschrieben hat. Hierbei gilt es, keine Unterscheidungen zwischen notleidenden Menschen zu machen, denn das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht. Niemand verlässt seine Heimat, Familie, Freund*innen und das gewohnte Leben ohne triftige Gründe und diese sind in der Regel: Krieg, Repressalien, Folter und Zerstörung. Dass diese Gründe aber geflüchteten BIPoC oftmals abgesprochen werden und man sie nicht selten des Asylmissbrauchs bezichtigt oder wie im aktuellen Fall der Schwarzen Student*innen in der Ukraine, denen man an den europäischen Grenzen nahegelegt hat, in ihre Heimatländer zu flüchten, lässt tief hinter die Fassaden des europäischen Wertekonstrukts blicken. Dass selbst Menschen, die auf den gleichen Pfaden und Wegen vor demselben Krieg fliehen und die gleiche Todesangst durchleiden, an derselben europäischen Grenze in die Kategorien weiß und nicht-weiß, europäisch und nicht-europäisch unterteilt werden und die weißen, europäischen Geflüchteten bevorzugt behandelt werden, untermauert die Empathielosigkeit Europas vor dem Leid Schwarzer Menschen und führt uns noch einmal vor Augen, wie white privileges funktionieren: bist du Schwarz oder nicht-europäisch, musst du selbst bei der Evakuierung aus einem Kriegsgebiet hinten anstehen.

Unweigerlich fühlt man sich an den Konflikt zwischen der Europäischen Union und dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko im November 2021 erinnert, als der Streit zwischen der Europäischen Union und Lukaschenko wegen der verhängten Sanktionen gegen Belarus eskalierte und mehrere Tausend Geflüchtete aus Syrien, dem Irak und Afghanistan zwischen der polnischen und belarussischen Grenze hin- und hergetrieben wurden, um als Druckmittel in einem Konflikt eingesetzt zu werden, für den sie nichts konnten. Sie waren und sind unsichtbare Schicksale in einem Niemandsland, die nur dann medial in Erscheinung treten, wenn sie Spielball politischer Konflikte werden. Dass diese beiden Parteien sich aktuell indirekt wieder gegenüberstehen, Lukaschenko auf der Seite von Putin, und Polen in der Rolle als östliche Grenze der Europäischen Union, mag vielleicht niemanden verwundern, aber die Bereitschaft Polens, mehr als 2 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen, während vor einigen Monaten mehrere Tausend Geflüchtete den Winter vor den Grenzen Polens verbringen mussten und einige sogar an Unterkühlung starben, ist nicht nur zynisch, sondern auch rassistisch und menschenverachtend. Denn wie sonst soll man die Tatsache beschreiben, dass die Herkunft geflüchteter Menschen darüber entscheidet, ob sie Hilfe bekommen oder dem Kältetod überlassen werden, wenn nicht als menschenverachtend und rassistisch.

Es gibt einige wesentliche Unterschiede zwischen den demokratischen Ländern der Europäischen Union und Autokratien, wie Russland. Diese bestehen nicht nur in der Aufteilung und Ausübung der politischen Macht, sondern lassen sich auch an der Gewährung und Einhaltung von Menschenrechten festmachen. Wenn aber selbst in Europa der Status und die Art der Behandlung von Geflüchteten davon abhängt, welche Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit ein Mensch hat und man mit der Selektierung und Abweisung von BIPoC an den europäischen Grenzen gleich gegen mehrere der insgesamt 30 Artikel der am 10. Dezember 1948 von der UN verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verstößt, was sagt das dann über die Europäische Union als Wertegemeinschaft aus?

Kein Generalverdacht

Wir dürfen auch in nächster Zeit als Gesellschaft nicht den Fehler begehen, ganze Volksgruppen unter Generalverdacht zu stellen und zu marginalisieren, nur weil Autokraten oder Terroristen aus ihren Herkunftsländern bzw. den Herkunftsländern ihrer Eltern Kriege anzetteln oder Terroranschläge verüben. Auch wenn die aktuellen Bilder und Berichterstattungen aus der Ukraine uns schockieren und wütend machen, sollten wir uns davor hüten, denselben Fehler wie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu begehen und alle russischen Staatsbürger*innen für die Verbrechen Putins verantwortlich zu machen, wie einst weltweit mit den Muslim*innen geschehen. Russische Staatsbürger*innen oder Menschen mit russischem Migrationshintergrund in Deutschland unter Generalverdacht zu stellen und sie bei jeder sich darbietenden Gelegenheit aufzufordern, sich deutlich zu positionieren und von Putin zu distanzieren, ist nichts Anderes als blinder Aktionismus. Und wenn dies auch noch zu Beleidigungen, Drohungen und Gewalttaten gegen Personen und russischen Einrichtungen ausartet, ist das nichts anderes als Rassismus, der vor allen Dingen auch Menschen trifft, die mit Putins Krieg nicht einverstanden sind oder seit Jahren im Exil leben, weil sie Kritiker*innen des Regimes von Putin sind. Eine ähnliche Aufforderung zur Distanzierung, deren Adressat*innen alle deutschen Bürger*innen sind, sucht man nach rechtsterroristischen Anschlägen in Deutschland vergeblich.   

Uneingeschränkte Solidarität!

Das ukrainische Volk braucht die uneingeschränkte Unterstützung und Solidarität Europas. Aber nicht nur, weil die Ukraine ein europäischer Staat ist und die Menschen blond und blauäugig sind, sondern weil es vor allen Dingen Menschen sind, die vor todbringenden Bomben und Kugeln fliehen. Sie fliehen, weil ihre Häuser von den russischen Truppen zerstört und ihre Familienangehörigen getötet werden. Sie fliehen, weil sie Todesangst haben und das Leben ihrer Kinder schützen wollen. Sie stehen plötzlich vor dem Nichts, wurden aus ihrem gewohnten Leben gerissen, ihre Freiheit und ihr Frieden sind bedroht, ihre Zukunftspläne wurden zunichte gemacht, sie mussten alles stehen und liegen lassen, im schlimmsten Fall sogar ihre alten und kranken Familienangehörigen, weil diese nicht in der Lage sind, die beschwerliche Flucht anzutreten. Sie sind Gestrandete in fremden Ländern, dankbar für die Hilfe, aber auch in Trauer, weil viele Millionen Menschen immer noch im Kriegsgebiet sind. Sie teilen das Schicksal von 84 Millionen Geflüchteten weltweit und es muss ihnen allen geholfen werden, ganz gleich welche Haut-, Augen- oder Haarfarbe und ohne Berücksichtigung der Nationalität, Religionszugehörigkeit oder des Geschlechts. Das sind wir, die das Glück haben, aktuell in Frieden und Sicherheit leben zu können, allen Menschen auf der Flucht schuldig. Ohne Ausnahmen.