(Keine) Zeit für Demokratie? - Politische Willensbildung unter Druck

Hier die Dokumentation über die Tagung in Tutzing aus dem Jahr 2015 zur politischen Willensbildung.

Lesedauer: 10 Minuten
Leute vor dem Bundestag

Keine Frage: Politische Willensbildung steht unter extremem Zeitdruck! Die Aushandlungsprozesse werden immer komplizierter, die Verhandlungsgegenstände immer komplexer, die Akteure immer zahlreicher – und die Medien wirken auch noch als Zeitdruckverstärker. Dabei sollte die Politik doch nicht nur schnell handeln, sondern Entscheidungen kompetent und sachgerecht vorbereiten und treffen. Zwänge der Beschleunigung treffen auf die Notwendigkeit zur Entschleunigung demokratischer Entscheidungsprozesse. Mit diesem schwer zu lösenden Zielkonflikt beschäftigte sich unsere Tagung, die in Zusammenarbeit mit der Akademie für Politische Bildung Tutzing stattfand.

„Wer herrscht, herrscht über Zeit und Raum“, verkündete Karlheinz Geißler, Zeitforscher und Gründer von „timesandmore“, einem Münchner Institut für Zeitberatung. Die Unterteilung der Zeit (Stunden, Minuten, Sekunden) hat sich nicht die Natur, sondern der Mensch ausgedacht. Sie ist somit Gegenstand politischer Festlegung, ein "hoheitlicher Akt". So gibt es in Deutschland erst seit 1893 eine einheitliche "deutsche Zeit". Und Zeit wird mitunter als politisches Instrument ge-, manchmal auch missbraucht. Die Uhrumstellung (Winter-/Sommerzeit), die Festlegung der Zeit-Zone (auf der Halbinsel Krim "herrscht" seit der Einverleibung durch Russland die "Moskau-Zeit"!) oder die Verschiebung des Renteneintrittsalters sind nur einige Beispiele dafür, wie mit Zeit Politik gemacht wird. Die Beschleunigung unserer Gesellschaft nahm seit der Erfindung der Uhr und der Abkehr von der Natur als zeitlichen Orientierungsrahmen immer mehr an Fahrt auf, so Geißler. Heutzutage herrscht ein richtiger Wettbewerb der Menschen darin, immer mehr Tätigkeiten gleichzeitig ausüben zu können, was nicht nur unsere Kultur massiv verändert, sondern auch die Menschen nicht unbedingt zufriedener macht. Beschleunigung bedeutet zunehmend Verdichtung von Tätigkeiten, ohne Aussicht, diese zu einem Abschluss zu bringen. Das Smartphone ist für Geißler der "Klassiker" und Symbol dieses "Vergleichzeitigungsprozesses". (Präsentation als PDF-Datei zum Herunterladen)

Auch Ulrich Mückenberger, Leiter der Forschungsstelle Zeitpolitik der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, betonte die Interdependenz von Zeit und Politik. Doch wie wirkt sich das auf die Demokratie aus? Mückenberger: „Durch den Beschleunigungsdruck wird Demokratie behindert.“ Die immer kürzere Abfolge krisenhafter Erscheinungen (Finanzmarkt-Krise, Griechenland-Krise, Flüchtlings-Krise etc.) führe zu einer Verschiebung wichtiger Entscheidungen in die Exekutive – zu Lasten der Parlamente. Ein Nachdenken über solche Entscheidungen im Sinne einer breiten Deliberation findet laut Mückenberger kaum mehr statt. Die Deliberation, also das Abwägen von Für und Wider, brauche Zeit und Raum. Andererseits ist das Mehrheitsprinzip bei der Entscheidungsfindung zeitpolitisch nicht zu vermeiden, sondern notwendig, um überhaupt zu Entscheidungen zu kommen. Immer öfter sehen wir uns jedoch Ereignissen gegenüber, die eine unmittelbare Reaktion erwarten. „Der Notstand ist die Stunde der Exekutive“, zitierte Mückenberger den ehemaligen Bundesinnenminister Gerhard Schröder. Manchmal sei dies unumgänglich. Dennoch müsse im Anschluss an den Notstand eine demokratische Aufarbeitung mit Beteiligung der Legislative stattfinden, um die Frage zu klären, wie in Zukunft mit ähnlichen Situationen umgegangen werden soll. "Demokratie braucht Zeit!", betonte Mückenberger und forderte "Inseln der Reflexivität im Politikbetrieb". Man müsse sich auf Wesentliches, auf grundlegende Weichenstellungen konzentrieren.

Diese Überlegungen wurden im Anschluss intensiv aus der Perspektive der politischen Praxis diskutiert. An der Diskussionsrunde unter Moderation von BR-Journalistin Stephanie Heinzeller nahmen die Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen im Bayerischen Landtag, Margarete Bause, der ehemalige Bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein und Jürgen Busse, ehemaliger Direktor des Bayerischen Gemeindetages, teil. Die Politiker bestätigten einmütig, dass sich an sie gestellte Anforderungen verändert haben und vor allem seitens der Medien eine viel schnellere Reaktion als noch vor einigen Jahren erwartet werde. Margarete Bause kritisierte jedoch auch, dass die konstatierte „Kurzatmigkeit“ an vielen Stellen von der Politik selbst verursacht sei: „Wir müssen vorausschauende Politik machen, damit Krisen gar nicht erst eintreten. Kurzfristige Reaktionen sind für alle Ebenen schwierig.“ Günther Beckstein pflichtete ihr bei, dass es manchmal sinnvoll sei, sich nicht unter Druck setzen zu lassen. Dennoch machte er darauf aufmerksam, dass meist derjenige als führungsstark gelte, der schnelle Entscheidungen klar formuliere: „Hätte Hollande nach den Anschlägen von Paris erst einmal eine Kommission einberufen, wären seine Werte in den Keller gegangen.“ Kommen Politikern Krisen und Zeitdruck damit manchmal sogar entgegen, indem sie Entscheidungen möglich machen, die sonst nicht durchsetzbar gewesen wären? Auf Nachfrage von Moderatorin Heinzeller wurde Beckstein deutlich: „Selbstverständlich! In Krisenzeiten hat der Finanzminister schlechte Karten.“ Der Druck könne als Chance gesehen werden, z.B. Geld für Personal und Ausrüstung zu bekommen – in der aktuellen Zuwanderungsdebatte sei dies erkennbar gewesen. Jürgen Busse vertrat in der Diskussion die Position der Kommunal- und Regionalpolitik und machte darauf aufmerksam, dass auch in den Gemeinden Zeitdruck entsteht, wenn politische Entscheidungen möglichst rasch umgesetzt werden sollen. Er wünschte sich nachhaltige und verlässliche Konzepte für die Zukunft, die Planung zulassen: „Die Hektik machen wir uns meistens selber.“

 

Vor allem die Sozialen Netzwerke tragen enorm zur Beschleunigung in unserer Welt bei, so auch im Journalismus. Dort haben sie sich inzwischen zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für die „klassischen Medien“ entwickelt. Mit den neuen sozialen Medien ist es für Politiker/innen (aber auch für „normale Bürger/innen) möglich, vom reinen Empfänger zum Sender von Nachrichten zu werden. Auf diese Weise wird die früher übliche Top-Down-Kommunikation und die Gatekeeper-Funktion von Journalist/inn/en zunehmend ausgehöhlt.  

Vorteile bieten die sozialen Medien allen voran bei der Geschwindigkeit. Ein wichtiger Aspekt, der im Vortrag von Richard Gutjahr (BR / Freier Journalist, München) deutlich wurde. Die Ausbreitung der Sozialen Netzwerke verglich Gutjahr mit der Entstehung einer neuen Welt, bei der Erdplatten auseinanderbrechen und Plattformen sich unterschiedlich ausbreiten. Mit einer über Smartphones verfügbaren Live-Streaming App demonstrierte er die enormen Möglichkeiten der Beschleunigung im Bereich der Berichterstattung durch technische Innovationen. „Jeder hat sein eigenes Fernsehstudio in der Hosentasche mit dabei – und im Vergleich zum Produktionsapparat klassischer Fernsehsender ist es spottbillig.“ 

Auch BR-Hauptstadt-Studioleiter Joachim Wendler rückte die zunehmende Bedeutung von „Social Media“ weiter in den Fokus. Nachrichten gewinnen durch sie vor allem an Aktualität. Diese ist für Wendler eine der wichtigsten Voraussetzungen für guten Nachrichtenjournalismus und ausgerechnet hier sehen sich die „klassischen“ Medien im Hintertreffen. Durch ihre Unabhängigkeit von Nachrichtenagenturen sind Soziale Netzwerke einfach schneller. Es wird sofort berichtet, sobald etwas passiert. Verlieren Nachrichten durch die enorme Beschleunigung und durch fehlende Filter an Relevanz und Seriösität? Wendlers Antwort: „Nur wer Informationen schnell zur Verfügung hat, kann auch schnell über deren Relevanz urteilen. Schnelligkeit geht der Relevanzbeurteilung voraus.“ Die „klassischen“ Medien haben nur eine Chance, wenn Sie sich in diesen Prozess einklinken, denn „guter Nachrichtenjournalismus ist ohne Soziale Medien nicht mehr möglich.“

In der Klimapolitik, so Jörg Haas, Pressereferent der Umweltorganisation Campact (Berlin), herrschen andere Notwendigkeiten im Umgang mit der Zeit: Ziel müsse es sein, möglichst schnell Lösungen zu finden – allerdings für einen sehr langfristigen, sich über Jahrzehnte hinziehenden Prozess. Durch die zeitliche Entfernung der katastrophalen Auswirkungen der Klimaveränderung verliert die Suche nach Gegenmaßnahmen vermeintlich an Dringlichkeit: "Der Klimawandel ist eigentlich zu langsam, um in der Politik für genügend Handlungsdruck zu sorgen" – ein fataler Zusammenhang. Statt Entschleunigung forderte Haas für die Klimapolitik deshalb eine unverzügliche Beschleunigung politischer Entscheidungen. Dennoch gebe es genügend Zeit für Demokratie in der Klimapolitik, betonte Haas. Mögliche Lösungsansätze seien aber durch gezielte Desorientierungskampagnen der Industrie-Lobby jahrzehntelang verhindert worden. Mangelnder Klimaschutz bedroht die Demokratie, da bei weiterer Untätigkeit der "permanente Notstand" drohe. In einer funktionierenden Demokratie wird sich die klimapolitische Vernunft durchsetzen, so Haas‘ optimistischer Ausblick.

„Gute Beteiligung bringt Beschleunigung im Entscheidungsprozess“, argumentierte Hans-Jörg Sippel, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Mitarbeit mit Sitz in Bonn, und führte an, dass durch einen konstruktiven Partizipationsprozess beispielsweise nachträgliche Klagen gegen eine Maßnahme vermieden würden. Ideale Bürgerbeteiligung setze voraus, die Betroffenen möglichst rasch und umfassend mit Informationen zu versorgen und sie einzubinden in einen kooperativen Kommunikationsprozess mit der Verwaltung und den Kommunalpolitikern.  Sippel betonte, dass mehr und bessere Partizipation eine Grundbedingung für eine größere demokratische Qualität politischer Prozesse sei. Er stellte als wesentliche Voraussetzung dafür die Verstetigung der Bürgerbeteiligung über entsprechende Satzungen oder Leitlinien dar. Nur so sei eine echte Bürgerbeteiligungskultur zu erreichen. Wie so eine Kultur entstehen kann, exemplifizierte er an den Leitlinien der Stadt Bonn. 

Welche Folgerungen ergeben sich aus all dem für die politische Bildung? Dieser Frage widmete sich Fritz Reheis von der Universität Bamberg. Politische Bildung definierte er dabei als einen „Prägungsprozess, der auf das Gemeinwesen bezogen ist“. Die zentrale didaktische Herausforderung bestehe darin, „geronnene Zeit zum Fließen zu bringen.“ Die Wertschätzung historischer Errungenschaften dürfe nicht so weit gehen, so Reheis, dass damit die Unüberwindbarkeit so genannter „Sach“-Zwänge begründet werde. „Die kollektive Suche nach dem allgemein Verbindlichen – und nichts anderes ist Politik – benötigt Zeit. Genauso, wie Bildung Zeit benötigt: Was wachsen soll, muss reifen können!“ (Präsentation als PDF-Datei zum Herunterladen)

 

Weiterführende Links und Literatur:

timesandmore. Institut für Zeitberatung: timesandmore.com

Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik: www.zeitpolitik.de/index.html

Campact:  www.campact.de/energiewende/

Netzwerk Bürgerbeteiligung: www.netzwerk-buergerbeteiligung.de

Lucia A. Reisch/Sabine Bietz: Zeit für Nachhaltigkeit – Zeiten der Transformation. Mit Zeitpolitik gesellschaftliche Veränderungsprozesse steuern. Oekom Verlag, München 2014

Holger Straßheim/Tom Ulbricht (Hrsg.): Zeit der Politik. Demokratisches Regieren in einer beschleunigten Welt. Baden-Baden 2015 

Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Sehnsucht nach Zeit. Was Zeitpolitik tun kann. Böll Thema 2/2015

Karlheinz A. Geißler/Jonas Geißler: Time is honey. Vom klugen Umgang mit der Zeit. oekom verlag München 2015

Karlheinz A. Geißler: Alles hat seine Zeit, nur ich hab keine. Wege in eine neue Zeitkultur. München 2014

Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (Hrsg.): Demokratie braucht Zeit. ZPM Nr. 22, Juli 2013

Ulrich Mückenberger: Zeiten der Politik und Zeiten der Medien. In: APuZ 22-23/2014, S. 3-9

Ulrich Mückenberger: Warum wird Demokratie ein Thema von Zeitpolitik? Vortrag, 28.11.2013

"Ich könnte schreien". Interview mit Richard Gutjahr. HORIZONT,  8.7.2015

Petra Sorge: Echtzeitjournalismus in der Kritik. In: APuZ 22-23/2014, S. 10-15

Petra Sorge: Die Medien müssen erwachsen werden. In: Cicero, 14.11.2014

Klaus Körber: Mehr Zeit! - Online jederzeit! In: ZPM Nr.22/Juli 2013, S. 10-21

Jörg Haas: COP 21 wird die Welt nicht retten. klimaratter.info, 28.10.2014

Jörg Haas: Falsches Spiel: Wie ein Konzern die ganze Welt betrügt. blog.campact, 11.11.2015

Christoph Bautz/Jörg Haas/Oliver Moldenhauer: Energiewende retour. Wie Sigmar Gabriel die Konzerne bedient. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2014, S. 72-80

Helmut Klages/Angelika Vetter: Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene. Perspektiven für eine systematische und verstetigte Gestaltung. Berlin 2013

Stiftung Mitarbeit (Hrsg.): Teilhaben und Mitgestalten. Beteiligungskulturen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bonn 2014

Stephanie Bock/Bettina Reimann/Klaus J. Beckmann: Auf dem Weg zu einer kommunalen Beteiligungskultur. Bausteine, Merkposten und Prüffragen. DIFU, Berlin 2013

Stiftung Mitarbeit (Hrsg.): Die Zukunft der Bürgerbeteiligung — Herausforderungen, Trends, Projekte. Beiträge Nr. 25. Bonn 2011

Heinrich-Böll-Stiftung: Stadt beteiligt. Wie gute Beteiligung verankert wird. E-Paper, Berlin 2014

Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung. Mit Adressverzeichnis und Methodenkatalog. Verlag der Deutschen Umweltstiftung, Berlin 2015

Fritz Reheis: Demokratie braucht Zeit. Vortrag, 28.11.2013

Fritz Reheis: Politische Bildung. Eine kritische Einführung, Wiesbaden 2013

Fritz Reheis/Michael Görtler (Hg.): Reifezeiten. Zur Bedeutung der Zeit in Bildung, Politik und politischer Bildung, Schwalbach/Ts. 2012

Fritz Reheis: Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus, München 2006

Referent*innen:

Margarete Bause, MdL

Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag, München

Dr. Günther Beckstein

Ministerpräsident des Freistaats Bayern a.D., Nürnberg

Dr. Jürgen Busse

Direktor / Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Bayerischen Gemeindetages a.D., Starnberg

Prof. Dr. Karlheinz Geißler

timesandmore, München

Richard Gutjahr

Journalist. Netzjournalist des Jahres 2011

Jörg Haas

Campact, Berlin

Stephanie Heinzeller

Bayerischer Rundfunk, München  

Prof. Dr. Ulrich Mückenberger

Universität Hamburg, Leiter der Forschungsstelle Zeitpolitik der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik

Prof. Dr. Fritz Reheis

Universität Bamberg

Hans-Jörg Sippel 

Vorsitzender des Vorstands der Stiftung Mitarbeit,  Bonn

Dr. Joachim Wendler

Bayerischer Rundfunk, Hauptstadtstudio Berlin

Veranstaltungsort

Tutzing, Akademie für Politische Bildung



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