Putins Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen die ukrainische Landwirtschaft

Interview

30 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche der Ukraine sind entweder von Russland besetzt oder durch Kriegshandlungen zerstört. Die neue Ernte steht kurz bevor. Die verbliebenen intakten Getreidesilos müssen dringend geleert werden, um die neue Ernte lagern zu können. Doch noch immer wird die Ausfuhr von über 24 Millionen Tonnen dringend benötigtem Getreide durch eine Seeblockade Russlands verhindert. Ein Interview mit Anna Danyliak und Mykhailo Amosov von der ukrainischen NGO Ecoaction über die Auswirkungen des Krieges auf die Landwirtschaft in der Ukraine.

Inka Dewitz: Wie hat sich die ukrainische Landwirtschaft seit Putins Angriffskrieg verändert?

Anna Danyliak: Es war von Anfang an klar, dass Putin den Agrarsektor angreifen würde. Landwirtschaftliche Güter machen 10 Prozent des BIP und 40 Prozent der Exporteinnahmen aus. Der Agrarsektor ist das Rückgrat der ukrainischen Wirtschaft und damit sozusagen ein attraktives Ziel. Russland hat systematisch die Infrastruktur und die Anlagen der großen Produzenten, die für den Export arbeiten, angegriffen. Aktuell verhindert Russland mit der Seeblockade außerdem die Ausfuhr von rund 24 Millionen Tonnen dringend benötigtem Getreide. Putin geht es also nicht nur darum, die Wirtschaft der Ukraine zu zerstören, sondern auch den Rest der Welt unter Druck zu setzen. Viele Entwicklungsländer sind abhängig von diesen Importen und weltweit sind die Preise für viele Getreidesorten und Pflanzenöl auf ein Rekordhoch gestiegen. Putin will die Welt mit einer Hungersnot zur Kooperation zwingen. Das ist nichts neues, dieses Mittel hat Russland schon früher eingesetzt.

Mykhailo Amosov: Die landwirtschaftlich genutzten Flächen in der Ukraine umfassen 33 Millionen Hektar, dieses Jahr haben wir 2,7 Millionen Hektar weniger bepflanzt. Die Kleinbauern haben ihre Pläne angepasst und sich dieses Jahr auf den Anbau von Buchweizen und Gemüse konzentriert, um die Preise zu stabilisieren.

Welcher Anteil landwirtschaftlich genutzter Flächen ist inzwischen durch Minen oder Kriegsaktivitäten unzugänglich?

Mykhailo Amosov: Die Russen haben uns mit einer riesigen Menge an Artillerie beschossen. Schätzungsweise ein Drittel des gesamten Landes ist nicht mehr zugänglich. Der Boden ist komplett zerstört, allein die Minenräumung wird zwischen drei und sieben Jahren dauern. Aber die Böden sind auch mit Schwermetallen kontaminiert, die Sanierung kann zehn oder sogar hunderte von Jahren dauern. In Frankreich gibt es Gebiete, die im 1. Weltkrieg so verseucht wurden, dass dort bis heute keine Landwirtschaft betrieben werden darf.

Anna Danyliak: Wir haben eine riesige Menge Land auf unbestimmte Zeit verloren und es wird Versuche geben, diese Verluste auszugleichen. Es ist zu befürchten, dass Flächen in weniger betroffenen Regionen des Landes, die sehr wertvoll für die Artenvielfalt sind, in Ackerland umgewandelt werden.

Welche finanziellen Verluste hat die ukrainische Landwirtschaft durch den Krieg?

Mykhailo Amosov: Die direkten und indirekten Verluste summieren sich insgesamt auf etwa 27 Milliarden Dollar. Mindestens 4 Milliarden Dollar davon sind direkte Verluste, die durch Bombenangriffe und die Zerstörung von Ackerland, Infrastruktur und Ausrüstung verursacht wurden. Getreidelager werden bombardiert. Außerdem hat Russland 500.000 Tonnen Getreide gestohlen und nach Syrien und in die Türkei verkauft. Die indirekten Verluste belaufen sich auf ca. 23 Milliarden US Dollar, die auf Handelsverluste zurückzuführen sind, weil große Mengen Getreide momentan nicht exportiert werden können.

Anna Danyliak: 90 Prozent der Getreideexporte wurden vor dem Krieg über die Schwarzmeer-Häfen verschifft. Das ist jetzt unmöglich. Noch immer liegen mehr als 24 Millionen Tonnen Getreide in den Silos und können aktuell nicht exportiert werden. Die Situation könnte zu weiteren Verlusten führen, weil das Getreide seine Qualität verliert und schließlich verrottet und nicht mehr transportiert werden kann. Das Getreide blockiert außerdem die Lagerhäuser. Die Silos sind voll, es gibt keinen Platz für die neue Ernte, die die Bauern unter solchen Anstrengungen produziert haben.

Über welche Wege kann Getreide aktuell noch transportiert werden?

Anna Danyliak: Vor dem Krieg haben wir nur 10 Prozent des Getreides über das Schienennetz transportiert. Die Regierung versucht jetzt, die Exporte per Bahn auszubauen, aber das geht natürlich nicht schnell genug.

Mykhailo Amosov: Die Kapazitäten der Bahn reichen nicht aus, um den gesamten Export zu stemmen. Und die Erntezeit steht bevor. Allen Landwirten, egal ob groß oder klein, stellt sich die Frage, wie sie die neuen Erträge einfahren und wo sie sie lagern werden. Kleinere Betriebe haben oft keine eigenen Möglichkeiten ihr Getreide zu lagern, weil sie ihr Getreide in den Silos der großen Agrarbetriebe lagern. Aktuell wird die Idee diskutiert, große Getreidesilos entlang der polnisch-ukrainischen Grenze zu bauen. Natürlich brauchen wir neue Lagerhallen, aber es dauert mindestens ein halbes Jahr, sie zu bauen.

Wie kann die internationale Gemeinschaft die ukrainischen Bäuerinnen und Bauern unterstützen?

Anna Danyliak: Wir bekommen viel individuelle Unterstützung aus Rumänien und den baltischen Ländern. Kleinere und mittlere Landwirt*innen haben sich zusammengeschlossen und unseren Bauern und Bäuerinnen bei der Aussaat geholfen. Es gab auch auf Regierungsebene zentralisiertere Bemühungen mit einem Soforthilfeplan. Aber das sind große Strukturen, die wahrscheinlich nicht unter diesen Bedingungen und nicht so schnell reagieren. Der Mangel an Treibstoff und Dünger ist ein offensichtliches Problem, da müssen Alternativen gefunden werden, denn es geht um die Ernährungssicherheit.

Mykhailo Amosov: Mit dieser Situation müssen wir irgendwie umgehen und unser Getreide muss in die Länder exportiert werden, die davon abhängig sind. Dafür brauchen wir die volle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Das Getreide muss so schnell wie möglich verschifft werden, vielleicht mit einem Konvoi aus Kriegsschiffen durch das Minenfeld im Schwarzen Meer. Sonst verlieren wir wertvolle Lebensmittel.

Durch die russische Invasion kam es auch in der Ukraine zu Lebensmittelknappheit, weil durch die Kriegshandlungen zentrale Lieferketten unterbrochen waren. Wie haben die Menschen darauf reagiert?

Mykhailo Amosov: In den ersten Tagen und Monaten des Kriegs war es wirklich schwer Lebensmittel wie Milch, Käse und Eier zu bekommen, weil alle Lieferketten zerstört waren und die großen landwirtschaftlichen Unternehmen Angst hatten, Lebensmittel zu liefern. In dieser Situation waren kleinbäuerliche Strukturen besonders wichtig für die Ernährungssicherung. Ich bin zu meinen Eltern ins Dorf gefahren – viele Menschen kamen zu ihnen, um Milch und Eier zu kaufen. Glücklicherweise hatten meine Eltern genug für den Verkauf übrig, obwohl sie auch noch zehn Binnenflüchtlinge in ihrem Haus aufgenommen hatten. Gleichzeitig gab es in den Supermärkten kaum Grundnahrungsmittel, dort konnte man nur noch Produkte wie Kartoffelchips kaufen.

Mykhailo, du hast zu den Besitzverhältnissen im Agrarsektor recherchiert. Was haben deine Recherchen ergeben?

Mykhailo Amosov: Ähnlich wie im Rest von Europa werden 80 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen von der Agrarindustrie kontrolliert und 20 Prozent von kleinen Betrieben bewirtschaftet.

Gemeinsam mit einer anderen Organisation haben wir auch Informationen über Landbesitz in der Ukraine gesammelt. Wir haben herausgefunden, dass in der ganzen Ukraine etwa 110.000 Hektar von russischen und weißrussischen Unternehmen kontrolliert werden. Davon liegt der größte Teil interessanterweise in den Regionen Charkiw, Luhansk und Cherson. Und ich habe herausgefunden, dass ein chinesisches Staatsunternehmen viele Vermögenswerte in der Ukraine besitzt, zum Beispiel Silos in der Nähe der Grenze zur Krim und in der Nähe von Mariupol. Da könnten ungefähr 100.000 Tonnen Getreide gelagert sein. Es ist sehr interessant, was da vor sich geht: Was hat das chinesische Unternehmen mit dem Getreide gemacht, oder was plant es damit? Gehört ihnen das Getreide oder den Bauern? Handeln sie damit? Ist das Getreide vielleicht schon in Syrien oder in der Türkei?

Der Krieg ist noch nicht beendet, die Auswirkungen sind auf vielen Ebenen deutlich spürbar, sowohl in der Ukraine als auch international. Wie wird sich die Landwirtschaft in der Ukraine verändern?

Mykhailo Amosov: Kurzfristig geht es darum, zu überleben und um Zugang zu Saatgut, landwirtschaftlichen Geräten und Lagerhallen. Wenn der Krieg vorbei ist, würde ich mir langfristig wünschen, dass kleine und mittlere landwirtschaftliche Betriebe vom Staat unterstützt werden – mit Finanzen, Wissen, Technologie. Und wir brauchen eine Umstellung auf eine nachhaltige Landwirtschaft, die weniger Ressourcen verbraucht. Die südliche Ukraine kann beispielsweise ohne Wasser aus dem Dnipro nicht überleben, das ist ein großes Problem. Die Region ist sehr heiß und trocken, in Folge des Klimawandels hat sich in den letzten 30 Jahren dort alles verändert. Ohne Bewässerung ist es unmöglich, eine effektive Landwirtschaft zu betreiben. Wir würden dort gern mehr Unterstützung für Kleinbauern statt für die Großbetriebe sehen, denn sie haben weder genügend Zugang zu Wasser noch die nötigen finanziellen Mittel, um es zu bezahlen.

Anna Danyliak: Der Krieg muss aufhören, denn sonst ist es wirklich schwer, schnelle Lösungen zu finden. Kurz- und langfristig müssen wir die lokalen bäuerlichen Initiativen unterstützen, weil Kleinbauern entscheidend für die nationale Ernährungssicherheit sind. Wir müssen außerdem in die Dezentralisierung des landwirtschaftlichen Sektors investieren, das wird uns besser vor Angriffen schützen. Auch wenn es aufwändig ist, eine solche Struktur aufzubauen, ist sie auf lange Sicht widerstandsfähiger und nachhaltiger. Wir müssen die Kleinbauern bei Maßnahmen zur Klimaanpassung unterstützen, denn die Ernährungsunsicherheit wird durch die Klimakrise verstärkt. Dass die Lebensmittelpreise schon vor dem Krieg gestiegen sind, ist teilweise eine Folge der Dürre. Aber nicht nur wir, sondern auch andere Länder müssen aus der Krise lernen, dass wir robuste nationale Ernährungssysteme brauchen. Für Regierungen muss das eine Priorität sein.


Mykhailo Amosov, Leiter der Abteilung für industrielle Modernisierung, Experte für Landnutzung

Anna Danyliak, Expertin für nachhaltige landwirtschaftliche Entwicklung