Gemeinsam für die Zukunft? Tschechien ein Jahr nach den Wahlen und inmitten der EU-Ratspräsidentschaft – eine Bilanz

Lesedauer: 6 Minuten
Gemeinsam für die Zukunft? Tschechien ein Jahr nach den Wahlen und inmitten der EU-Ratspräsidentschaft

von Sebastian Lambertz

Seit dem 1. Juli hat Tschechien den Vorsitz im Rat der Europäischen Union inne. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist dabei das bestimmende Thema. Im Fokus stehen aber nicht nur sicherheitspolitische Fragen. Auch steigende Energiepreise und eine starke Inflation sowie eine neue Fluchtmigration sind direkte Folgen des Krieges. Bei einer gemeinsamen Podiumsdiskussion mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. (DGO), dem Adalbert-Stifter-Verein und der VHS Weiden-Neustadt am 10. November 2022 in der Max-Reger-Halle in Weiden in der Oberpfalz sprachen Dr. Zuzana Lizcová (Karls-Universität Prag), Dr. Volker Weichsel (Zeitschrift Osteuropa) und der bayerische Landtagsabgeordnete Jürgen Mistol (Bündnis 90/Die GRÜNEN) daher über zentrale Fragen der Energie-, Sicherheits- und Migrationspolitik im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft. Es moderierte Dr. Sebastian Lambertz vin der DGO.

Energiepolitik als Streitthema

Nicht erst seit dem Wegfall von russischem Gas als Brückentechnologie fördere Tschechien aktiv den Ausbau der Kernenergie, berichtete Weichsel zum Einstieg. Gleichzeitig sehe er für diese Technologie keine große Zukunft. Im Rennen um die zukunftsträchtigste Energiequelle seien die Erneuerbaren klar im Vorteil, allein aus Kostengründen.

Angesprochen auf den kürzlich vom tschechischen Ministerpräsidenten Fiala unterzeichneten „Südböhmischen Nuklearpakt“ reagierte Mistol gelassen. So ein Pakt sei schnell unterzeichnet, welche praktischen Implikationen er haben werde, müsse man erst abwarten, so der „Koordinator für die Zusammenarbeit des Bayerischen Landtags mit der Abgeordnetenkammer des Parlaments der Tschechischen Republik“. Dennoch sei das einseitige Vorgehen der tschechischen Seite befremdlich gewesen. Die Verkündung habe im Beisein bayerischer Abgeordneter stattgefunden, die von der Ankündigung überrascht worden seien. Grundsätzlich sah Mistol in der grenzübergreifenden Kommunikation und Zusammenarbeit in Energiefragen noch viel Nachholbedarf. Es gebe kaum gegenseitigen Austausch, obwohl die Voraussetzungen für den Einsatz erneuerbarer Energien in den Grenzregionen durchaus ähnlich seien. Das Argument, die Bedingungen für Wind- und Solarenergie seien in Tschechien schwierig, ließ er nicht gelten. Es gebe Windkraftanlagen in Bayern, die eine ähnliche Produktion hätten, wie vergleichbare Anlagen an der Nordsee.

Lizcová verwies darauf, dass auch die bayerische Seite teilweise ohne Absprache Windkraftanlagen in Grenznähe errichten lasse. Das sei zwar mit dem Bau von Atomreaktoren nicht direkt vergleichbar, zeige aber, dass zu einer problematischen Kommunikation immer zwei Seiten gehören.

Jürgen Mistol auf dem Podium

Sicherheitspolitik: Europa muss mehr Verantwortung übernehmen

Die Debatte zu sicherheitspolitischen Fragen drehte sich vor allem um das unterschiedliche Vorgehen der Nachbarländer im Hinblick auf die Waffenlieferungen an die Ukraine. Die Erfahrung von 1968, also die militärische Niederschlagung der Reformbewegung des Prager Frühlings, sei der Grund dafür, dass Tschechien im Gegensatz zu Deutschland dazu bereit sei, schwere Waffen wie Kampfpanzer zu liefern, so Mistol. Lizcová wollte dem nur teilweise zustimmen. Auch die geographische Lage des Landes spiele in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Bei einer Niederlage der Ukraine seien Länder wie Tschechien die nächsten Ziele russischer Aggression. Die Äußerung des russischen Präsidenten Vladimir Putins, er wolle die NATO in die Grenzen von vor 1999, dem Jahr des NATO-Beitritts Tschechiens, Polens und Ungarns, zurückdrängen, müsse man sehr ernst nehmen. Während in Deutschland zudem die Rede davon sei, die Ukraine würde „unsere Werte“ verteidigen, habe sich in Tschechien die Überzeugung entwickelt, die Ukraine kämpfe „für uns“. Das sei ein signifikanter Unterschied.

Einig waren sich die Panelist*innen dahingehend, dass es ein gesamteuropäisches Vorgehen in der Verteidigungspolitik brauche. Die Möglichkeiten für Tschechien, im Rahmen der Ratspräsidentschaft dabei entscheidende Impulse zu setzen, seien zwar begrenzt, so Lizcová, dennoch sei sie von der aktuellen Europapolitik ihres Landes sehr angetan. Die aktuelle Regierung sei die erste seit Vacláv Havel, die eine ähnliche Philosophie Europa gegenüber vertrete, wie der ehemalige Präsident. Das Motto der Ratspräsidentschaft „Europa als Aufgabe“, das in Anlehnung an eine Rede Havels von 1996 gewählt wurde, würde dies deutlich machen.

In einem kurzen Exkurs zum gesamteuropäischen Umgang mit dem russischen Angriffskrieg verwies Weichsel auf eine große Wut auf die deutsche Politik der letzten zehn bis 15 Jahre, insbesondere in Polen und dem Baltikum. Die nur sehr begrenzt funktionierenden Ringtausch-Initiativen würden vor allem in Polen den Eindruck verstärken, man werde von Deutschen „über den Tisch gezogen“. Die Differenzen mit Tschechien seien im Vergleich dazu als relativ gering einzuschätzen, so Weichsel.

Gemeinsam für die Zukunft Podium

Es gibt keinen grundsätzlichen Wandel in der tschechischen Migrationspolitik

Angesichts des massiven russischen Beschusses kritischer Infrastruktur in der Ukraine und dem damit verbundenen Versuch, Europa durch weitere Fluchtbewegungen zu destabilisieren, ist auch die Migrationspolitik eng mit der Sicherheitspolitik verknüpft. Anders als der aktuelle Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten in Tschechien suggerieren könnte, sei aber kein grundsätzlicher Wandel in der tschechischen Migrationspolitik zu konstatieren, so Lizcová. Zu unterscheiden sei an dieser Stelle zwischen einer weitgehend ablehnenden Haltung dem ukrainischen Staat gegenüber, der in Tschechien als korrupt angesehen werde, und der Wahrnehmung der Ukrainer*innen selbst. Viele Tschech*innen würden die Hilfe ukrainischer Haushaltshilfen und Handwerker in Anspruch nehmen und dadurch enge Beziehungen zu diesen Personen aufbauen. Grundsätzlich sei die kulturelle Nähe zur Ukraine ein Faktor, der einen anderen Umgang der Bevölkerung im Vergleich zur Flüchtlingskrise von 2015 erklären könnte, ebenso wie die Tatsache, dass es vor allem ukrainische Frauen und Kinder seien, die aktuell nach Tschechien kämen.

Allerdings seien die Gründe für die Ablehnung Tschechiens im Hinblick auf die Aufnahme von Geflüchteten 2015 auch in der Wahrnehmung der EU in Tschechien zu suchen, so Weichsel. Der europäische Verteilungsschlüssel sei als Eingriff in die eigene Souveränität wahrgenommen worden. Der Fehler in diesem Zusammenhang sei bei Angela Merkel zu suchen, entgegnete Lizcová darauf, sie habe damals die Grenzen im Alleingang geöffnet. Mistol widersprach: Die Grenzen seien damals nicht geöffnet, sondern lediglich nicht geschlossen worden. Die Flüchtlinge seien bereits in Ungarn und Italien gewesen und man habe sich dazu entschlossen, ihnen die Einreise nach Deutschland nicht zu verwehren. So habe man nicht nur Italien, sondern sogar auch dem ungarischen Präsidenten Victor Orban, einem vehementen Kritiker der europäischen Migrationspolitik, geholfen, gab Weichsel zu bedenken.

So verschieden die Positionen der Teilnehmer*innen zu den diskutierten Aspekten auch teilweise waren – am Ende war man sich vor allem in einer Sache einig: Es braucht mehr europäische Ansätze, um mit den Problemen der Gegenwart umzugehen.