Der Zugang zum sicheren Schwangerschaftsabbruch ist eine Frage der Klasse. Die freie Entscheidung Kinder zu bekommen und würdevoll groß zu ziehen aber auch. Reproduktive Gerechtigkeit umfasst weit mehr als den Zugang zum sicheren Schwangerschaftsabbruch – aber nicht mal der ist in Deutschland für alle erreicht.
„Drum nützt der unterdrückten Klasse, nur die Bezahlung durch die Kasse“, erinnert sich Brigitte Hornyik an einen Slogan der Frauenbewegung, der in die Jahre gekommen und dennoch brandaktuell ist. Seit Jahrzehnten macht die Wiener Juristin und Pro-Choice-Aktivistin gegen die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs mobil – ein Kampf, der immer auch schon Klassenkampf war. So prägte die Frauenbewegung schon früh den Begriff des „Klassenparagrafen“ 218. Denn als einer ungewollt Schwangeren noch bis zu fünf Jahren Zuchthaus drohten, waren es wohlhabende Frauen, die auf Ärzt*innen zurückgreifen konnten – während Arbeiterinnen im Hinterhof ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben riskierten. Unzählige solcher illegalen Eingriffe fanden noch in den 70er-Jahren in Deutschland und Österreich statt [1] , rund um den Globus sind unsichere Abtreibungen gegenwärtig bittere Realität. Jährlich zählt Nigeria trotz strikter Gesetze rund 2,8 Millionen Abtreibungen– mehr als die Hälfte unter unsicheren Bedingungen, berichteten jüngst Reporter*innen in der taz. Wer genügend Geld aufbringt, wird von ausgebildeten Ärzt*innen behandelt – für rund 6.000 Personen endet der Eingriff jedes Jahr tödlich.
Keine Kassenleistung
Abtreibungsverbote verhindern keine Schwangerschaftsabbrüche, betonen Feminist*innen deshalb seit Jahrzehnten – sie gefährden vielmehr das Leben ungewollt Schwangerer.
Doch auch in Deutschland, wo ein Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen straffrei möglich ist, herrschen keineswegs gleiche Zugangsbedingungen. Rund 200 bis 570 Euro kostet der Eingriff je nach Praxis und Methode, berichtet Pro Familia, ungewollt Schwangere müssen das aus eigener Tasche zahlen. Bei einem stationären Aufenthalt im Krankenhaus kommt der entsprechende Tagessatz hinzu.
Allein wer als „sozial bedürftig“ gilt, kann einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Aktuell liegt die Einkommensgrenze dafür bei 1.258 Euro netto, zusätzlich gilt es glaubhaft zu machen, dass kein kurzfristig verwertbares Vermögen zur Hand ist. Behördenanträge wie diese stellen eine ganz grundsätzliche Hürde dar: Sie erfordern spezifisches Wissen – und eine Überwindung der Scham, mit der Menschen mit geringem Einkommen allzu oft kämpfen.
Aber auch der Wohnort spielt eine wesentliche Rolle, denn die Versorgungslage in Deutschland spitzt sich zu. Es gebe einen „akuten Versorgungsnotstand in vielen Regionen Deutschlands“ kritisiert die Initiative Doctors for Choice. Ungewollt Schwangere müssten bis zu 200 Kilometer zur nächsten Praxis fahren. Ärzt*innen steht es in Deutschland frei, aus Gewissensgründen keine Abbrüche durchzuführen – radikalen Abtreibungsgegner*innen gibt das sogenannte Werbeverbot (Paragraf 219a) zudem ein machtvolles Werkzeug in die Hand, wie der Fall Kristina Hänel zeigt. Für einen Schwangerschaftsabbruch eine weite Reise antreten zu müssen, bedeutet nicht nur zusätzlichen Organisationsaufwand und damit auch psychische Belastung – sie erfordert auch finanzielle Mittel. Darüber hinaus spielen eine ganze Reihe von Privilegien eine Rolle. Etwa Sprachkenntnisse und das Wissen um Informationsquellen ebenso wie das eigene soziale Netzwerk: Wer Ärzt*innen im Freundeskreis hat, kann auf ganz andere Ressourcen zurückgreifen. Von Rassismus oder Klassismus betroffene Personen berichten häufig von stigmatisierenden Erlebnissen im Gesundheitssystem und auf Ämtern, was den ohnehin hürdenreichen Schwangerschaftsabbruch zusätzlich erschwert.
Die Ungerechtigkeit beginnt indes schon früher. Nicht nur der Schwangerschaftsabbruch, auch kostenintensive Verhütungsmittel sind in Deutschland keine Kassenleistung. Allein bis zum vollendeten 22. Lebensjahr vergüten gesetzliche Krankenkassen verschreibungspflichte Verhütungsmittel wie Pille oder Spirale, ab dem 18. Geburtstag wird eine Zuzahlung fällig. Um den Schwangerschaftsabbruch Teil der elementaren, kassenfinanzierten Gesundheitsversorgung zu machen, ist zuallererst eine Entkriminalisierung nötig: Noch immer ist er im Strafgesetzbuch verankert und damit eine Straftat, die nur unter bestimmten Bedingungen straffrei bleibt.
No justice, no choice
Doch nicht nur der Schwangerschaftsabbruch ist eine Klassenfrage, auch die vermeintliche Wahlfreiheit, sich für Kinder zu entscheiden, ist zutiefst von Klassenverhältnissen geprägt. Reproduktive Selbstbestimmung umfasst also weit mehr als die Entscheidung, eine Schwangerschaft auszutragen oder abzubrechen. Schon vor Jahrzehnten kritisierten Schwarze und Working Class Feministinnen in den USA eine Pro-Choice-Bewegung, die von den Lebensrealitäten weißer Mittelschichtsfrauen geprägt ist. Für von Rassismus Betroffene sei etwa nicht nur das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch, sondern auch das Recht auf ein Familienleben von zentraler Bedeutung. Reproductive Justice, so der neu entwickelte Begriff, der Selbstbestimmung vor dem Hintergrund von Armut, Polizeigewalt oder Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem einforderte. 1997 gründete sich das SisterSong Women of Color Reproductive Justice Collective, das bis heute für reproduktive Gerechtigkeit kämpft.
Das bürgerliche Idealbild der weißen Mittelklasse-Mutter wirke auch als Herrschaftsinstrument, analysieren Loretta Ross und Ricki Solinger in ihrem Buch „Reproductive Justice. An Introduction”: Es diene dazu, alle anderen als unfähige, als unzureichende Mütter abzuwerten. Nach wie vor wird Frauen mit Behinderungen, LGBTIQ-Personen, migrierten Personen oder armutsbetroffenen Menschen das Recht auf Familiengründung abgesprochen.
„Hartz-IV-Familie“
Die (klassistisch wie rassistisch konnotierte) Frage, ob in Deutschland „die Richtigen“ Kinder bekommen, taucht immer wieder im Bundestag und auf den Bestsellerlisten auf („Deutschland schafft sich ab“). Es seien „die Falschen“, Menschen mit niedriger formaler Bildung, konstatierte FDP-Vorstandsmitglied Daniel Bahr 2005. Deutschland gebe viel Geld aus, um „sozial schwachen“ Familien zu helfen, versage aber dabei, Akademikerinnen bei ihrem Kinderwunsch zu unterstützen.
Tatsächlich tragen Sozial-, Bildungs- und Familienpolitik trotz umverteilender Effekte auch dazu bei, bestehende Klassenunterschiede zu zementieren. So fehlt eine flächendeckende, kostenlose Kinderbetreuung ebenso wie eine chancengerechte Gesamtschule oder eine würdige Alterssicherung. In einem erwerbsarbeitszentrierten Sozialsystem zahlen Frauen, die die unbezahlte Care-Arbeit stemmen, einen hohen Preis – oder lagern diese auf prekär beschäftigte Migrantinnen aus. Fast jedes fünfte Kind ist in Deutschland von Armut betroffen, besonders häufig sind es Alleinerziehende und ihre Kinder, bei denen jede ungeplante Ausgabe Existenzängste auslöst. Bezieher*innen des Arbeitslosengelds II („Hartz IV“) wird indes das staatliche Kindergeld als Einkommen angerechnet: Sie müssen sogar Kindergeld beantragen, um ihre „Bedürftigkeit“ zu verringern [2].
Statt diese strukturelle Ungleichheit an der Wurzel zu packen, setzt neoliberale Politik auf die Erzählung der Leistungsgesellschaft. Wer sich nur genug anstrenge, könne alles erreichen – Armut wird so zum individuellen Versagen umgedeutet. Und dieses leuchten Medienformate allzu gerne aus. Klassistische Bilder von „Hartz-IV-Familien“ finden sich im Boulevard ebenso wie im bürgerlichen Feuilleton oder im Reality-TV, wo „verantwortungslose“ Mütter vorgeführt und beschämt werden.
„‘Ich bin ein Kostenfaktor‘, ‚Ich funktioniere nicht‘, ‚Ich bin eine Belastung für die anderen‘. Beschämende Fremdbilder greifen den Selbstwert an“, skizziert Anne Seeck die Scham von Armutsbetroffenen, die in einer sozial ungleichen Gesellschaft allgegenwärtig sei.
Das klassistische Bild der vermeintlich verantwortungslosen Frau entfaltet auch beim Schwangerschaftsabbruch seine Wirkung, wie das Forschungsprojekt „MeGySa - Medizinstudierende und Gynäkolog*innen zum Schwangerschaftsabbruch” demonstriert. 18 Berliner Medizinstudierende und Gynäkolog*innen wurden zu ihren Einstellungen zum Schwangerschaftsabbruch befragt, die Entscheidung für einen Abbruch durch formal höher gebildete, gut situierte Frauen beurteilten die Interviewten weniger kritisch. Jüngeren, sozial benachteiligten Frauen unterstellten sie hingegen eher, leichtsinnige, irrationale Entscheidungen zu treffen [3].
Klassismus kann so als Ideologie verstanden werden, die den Unterbau liefert für eine Politik des Sozialabbaus und der Disziplinierung von Armutsbetroffenen. Eine klassismuskritische Analyse der Debatten um Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionspolitik macht deutlich, wie sehr die Möglichkeit, sich für oder gegen das Austragen einer Schwangerschaft zu entscheiden, von Klassenverhältnissen beeinflusst ist. In einer Gesellschaft, die von sozialer Ungleichheit geprägt ist, kann es somit keine reproduktive Gerechtigkeit geben. Sie erfordert als Voraussetzung nicht nur die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, sondern eine Politik der Umverteilung, die das gute Leben für alle ermöglicht.
[1] Schilderungen illegaler Abtreibungen finden sich in verschiedenen Büchern zur Geschichte der Frauenbewegungen, z.B. hier: Kratz, Käthe / Trallori, Lisbeth N (Hg.): Liebe, Macht und Abenteuer. Zur Geschichte der Neuen Frauenbewegung in Wien. Promedia 2013
[2] https://www.hartziv.org/hartz-iv-und-kindergeld.html#kindergeld-wird-auf-hartz-iv-angerechnet
[3] https://www.gwi-boell.de/de/2019/01/18/zwischen-tabu-passivitaet-und-pragmatismus-medizinerinnen-zum-schwangerschaftsabbruch